"Zehn Jahre lang verschlafen"
"Bei der Digitalisierung des Unterrichts sei viel versäumt worden, sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes. Die Lehrkräfte seien nun aber besser vorbereitet.
Schulschließungen sind längst da, daraus macht die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes keinen Hehl. Sie sagt aber auch: Lehrkräfte seien auf den Fernunterricht besser vorbereitet als im März. Doch ist »besser« gut genug? Die Frage drängt. Auch München hat nun den Inzidenzwert von 100 überschritten.
SZ: Frau Fleischmann, könnten Lehrkräfte und Schulen den Fernunterricht heute besser bewältigen als im Frühjahr?
Simone Fleischmann: Ja, die Lehrerinnen und Lehrer haben seitdem viel für Online-Kommunikation mit Schülern trainiert. Sie müssten nicht per Knopfdruck auf etwas für sie völlig Neues umschalten.
Sie schauen dem nächsten Lockdown der Schulen selbstbewusst entgegen?
Es gibt ihn ja, wenn wir ehrlich sind, an vielen Orten längst. 15 000 Schülerinnen und Schüler in Bayern sind im geteilten oder im Fernunterricht. Aber wir müssen den Eltern trotzdem klipp und klar sagen: Ein durch Lernvideos und Lernmanagementsystem gestützter Fernunterricht wird nicht das Gleiche wie analoges Lernen in der Schule sein.
Warum nicht - woran hapert es denn noch?
Digitale Bildung erfordert ein Umdenken. Ein Beispiel: Die Lehrerinnen und Lehrer wissen jetzt, was der flipped classroom ist, also das umgedrehte Klassenzimmer, bei dem Lehrkräfte die Inputphase der Stoffvermittlung den Schülern als Video für zu Hause zur Verfügung stellen - und dann in der Klasse individuell auf die Fragen der Schüler eingehen. Viele Lehrer wissen aber noch nicht, wie das Tag für Tag im Detail pädagogisch umzusetzen ist: Ob und was sie zusätzlich zu dem Video als Hausarbeit aufgeben sollen, wie sie den Lernfilm im Klassenzimmer orchestrieren und wie man das idealerweise nachbereitet.
Wieso beherrschen Lehrer und Lehrerinnen das noch nicht?
Weil wir an Digitalisierung nicht aufholen können, was wir alle zusammen, Politik, Gesellschaft und Pädagogik, zehn Jahre lang verschlafen haben. Ja, wir Lehrer können heute Kommunikation mit allen Schülern herstellen. Nein, ein neues perfektes Modell von Fernlernen oder hybridem Lernen können noch nicht alle Lehrer beherrschen.
Und welche Lehrkräfte oder Schulen können es?
Es gibt nicht die Schule. Wir müssen nach Region und nach Schulform unterscheiden. Ein High-End-Gymnasium in einem prosperierenden Mittelzentrum ist ein anderer Fall als eine Schule im Brennpunkt. Hier haben wir vielleicht schon ein Drittel von Lehrerinnen und Lehrern, die souverän mit digitalen Tools umgehen. Woanders wird es Lehrende geben, die sich womöglich denken: Für meine Schüler ist was anderes wichtiger. Das sitzen wir aus.
Welche Schulen sind das?
Nehmen Sie eine Brennpunktschule, wo wahrscheinlich jeder Schüler ein Smartphone hat, das aber noch gar nicht als Bildungsmedium begreift. Sei es, weil er es praktisch 24 Stunden am Tag als soziales Medium zur Kommunikation mit seinen Peers benutzt. Sei es, weil ihm die innere Ruhe fehlt, die konstruktiven Möglichkeiten eines Handys zu nutzen. Wir alle wissen, dass es Schulen gibt, die gerne digitale Bildung praktizieren würden, deren Schüler aber auch ganz andere Sorgen haben - größere, als wir uns das ausmalen wollen. Die fallen durch alle sozialen Netze. Das Internet aber wird sie nicht auffangen..."
Zum Interview von Christian Füller auf Süddeutsche Zeitung.de.