Einsatz digitaler Medien in der Montessori-Grundschule: Unsere Erfahrungen in der Corona-Krise
"Digitalisierung in der Grundschule, gar in einer Montessori-Grundschule – geht das zusammen? Sehr gut sogar – meint jemand, der es wissen muss: Jana Reiche ist Leiterin der Landweg-(Grund-)Schule in der Prignitz, Brandenburg, und sie beschäftigt sich seit den Schulschließungen im vergangenen Jahr mit den Möglichkeiten, die digitale Medien den Schülerinnen und Schülern ihrer Montessori-Schule bieten – und zwar so intensiv, dass daraus unter anderem ein eigener Youtube-Kanal erwuchs. Im folgenden Beitrag (dem zweiten Teil des Textes) berichtet sie von ihren positiven Erfahrungen in der Corona-Krise.
Materialarbeit 2.0: Warum die Montessoripädagogik die digitale Welt nicht zu fürchten braucht (Teil 2)
Seit dem Frühjahr 2020 wissen wir, dass diese pädagogische Offenheit das Unterrichten mit digitalen Mitteln im Distanzunterricht ermöglichte, ohne, dass wir dieses Szenario geprobt hatten. Schauen wir für einen Moment auf das letzte Jahr zurück. Als die Schule im März 2020 schließen musste, kam das zwar überraschend, aber die Voraussetzungen für einen Perspektivwechsel waren gegeben. Wir bauten auf das auf, was wir hatten. Wir setzten das Unterrichten in offenen Aufgabenformaten fort, entwickelten vorrangig fächerübergreifende Aufgaben, die den Kindern das Lösen von realen Problemen ermöglichten. Statt einer Kontrollstruktur führten wir unsere Feedback-Kultur fort. Digitale Technik nutzten wir als sinnvolles Hilfsmittel, auch als neue Option für weitere und bisher unentdeckte Zugänge.
Die Begleitung der Schüler*innen erfolgte zum Teil sehr individuell nach den Bedürfnissen der einzelnen Elternhäuser. Unsere Jüngsten übten anfangs nahezu technikfrei. Es entstand der YouTube-Kanal ReicheReformpädagogik, um das häusliche Üben über die filmische Darbietung unserer Materialarbeit zu erleichtern. Das eine oder andere zusätzlich verteilte Arbeitsheft war dem Eifer einzelner Kinder oder dem Bedürfnis der begleitenden Elternperson geschuldet, auch in diesem Punkt waren wir sehr kompromissbereit und im Gespräch. Begleitend zum Entwickeln und Einüben des Distanz-Lern-Szenarios für unsere eigene Schule erkannten wir den hohen Wert von Erfahrungsaustausch und gegenseitiger Anregung.
Wir nahmen am Hackathon »Wir für Schule« teil, trafen uns wöchentlich über den Montessori-Bundesverband mit Lehrer*innen anderer Schulformen, waren aktiv im Austausch über das Schulportal der Bosch-Stiftung und in anderen Fortbildungen. Diese raumgreifende Vernetzung und der Austausch innerhalb unseres Teams erweiterten unseren Wissensschatz enorm, unter anderem dadurch, dass wir einen Einblick in der Fülle der Angebote gewannen. Trotz der notwendigen schnellen Reaktion auf die Schulschließungen durfte in unserem pädagogischen Team jeder seine Lernprozesse im eigenen Tempo vollziehen. In der Umstellungsphase stellten wir zunächst Datenschutzfragen hintenan, da wir Prioritäten setzen mussten.
Lernprozesse sind erfolgversprechend, wenn sich jeder an seinem Platz sicher fühlt und mit Spaß und Motivation arbeitet
Nicht jede*r Pädagog*in unterrichtete in dieser Zeit eine Klasse, einige waren mit Materialzusammenstellung beschäftigt oder für die Notbetreuung zuständig. Die eine oder andere Team-Kolleg*innen stellte mit Verwunderung fest, dass die Nutzung digitaler Technik nicht notwendigerweise zur Vereinsamung führt und kreatives Potential verlangt. Unsere grundsätzliche Haltung zum Lernen änderte sich auch in dieser Zeit nicht: Lernprozesse sind erfolgversprechend, wenn sich jeder an seinem Platz sicher fühlt, angstfrei experimentieren darf und mit Spaß und Motivation arbeitet.
Obwohl wir nach den Ferien zunächst wieder im Präsenzunterricht öffnen durften, integrierten wir die Erfahrungen aus der ersten Schließung in unsere langfristigen Planungen und zeitnahen Vorhaben. Wir wollten so Möglichkeiten zum Gestalten von hybriden Unterrichtsformen sowohl individuell für einzelne Schüler*innen als auch gesamtschulisch für den Fall erneuter Schließungen parat haben. Wir begannen die Welterkundung mit der Epoche »Naturwissenschaft und Technik«, eine von vier Epochen, die unser Schuljahr strukturiert. Wir nutzten die ersten Wochen zur intensiveren Auseinandersetzung mit der digitalen Technik. Wir erzählten, angelehnt an den Aufbau einer Kosmischen Erzählung, von der Entwicklung des Computers. Die Kinder der Klassen 4-6 erwarben einen Medienführerschein. Dabei wurde zum Beispiel die Nutzung des Internets, die kritische Quellennutzung und Gefahren und Vorteile der verschiedenen Social-Media-Optionen diskutiert. Nachmittags gab es das Angebot einer Computer-AG, in der das Programmieren mit Scratch, Python und HTML kennengelernt und praktisch probiert wurde.
Ein Freitag im November in unserer Schule: Der Freitag ist in weiten Teilen der Freiarbeit gewidmet. »Digitalbüro« steht auf dem improvisierten Schild an einer Tür. Zwei Kinder aus der fünften Klasse sitzen an einem Notebook und möchten noch einmal den Zugang in die Schulcloud ausprobieren. Das von den Eltern gewählte supersichere Passwort fordert höchste Konzentration bei der Eingabe. Schließlich schaffen es die beiden und laden Texte, die sie für die Schulzeitung geschrieben haben, in den entsprechenden Ordner hoch. Ein Mädchen findet außerdem Feedback zu einem kleinen englischen Text, den sie am Vortag hochgeladen hatte. So muss sie auf die Hinweise ihrer Englisch-Lehrerin nicht eine ganze Woche warten.
Die Kinder sammeln erst seit wenigen Tagen Erfahrungen mit der Cloud. Schnell haben sie die für sie relevanten Strukturen und Teile entdeckt und Sicherheit in der Nutzung gewonnen. Ein Junge, der sich mit dem freien Schreiben sonst recht schwertut, nutzt den digitalen Schreibanlass am Tablet in Knietzsches Geschichtenwerkstatt begeistert. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz entstehen. Ein Kind übt das Zehnfingertippen, zwei andere beenden das Buchprojekt »Auf dem Weg zur Schule« ein interaktives Hörbuch, welches während der Woche in einer Gruppenarbeit mithilfe des Programms »Bookcreator« entstanden war.
Durch gründliche Beobachtung, nach wie vor ja die Hauptaufgabe der Montessoripädagog*innen, fanden wir bestätigt, dass es sinnvolle Altersgrenzen für bestimmte Zugänge gibt. Je jünger die Kinder waren, um so kürzer waren die Zeitfenster, in denen sie tatsächlich kreativ und mit Kompetenzerwerb an den Geräten arbeiteten. Wir legten die Geräte wieder beiseite nach dem Ende der Technik-Epoche, denn im Alltag unserer Montessori-Grundschule spielt sie nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Sie sind ein Material von vielen..."