Wider die digitale Entmündigung

»Der nordrhein-westfälische Philologenverband hat ein Gutachten zum Einsatz digitaler Medien in Auftrag gegeben und fühlt sich bestätigt: Der Einsatz digitaler Medien garantiert noch längst keinen Lernerfolg.
Lehrermangel, Personalknappheit, hohe Krankenstände und pandemiebedingte Einschränkungen befeuern auch hier eine Hinwendung zum sogenannten digitalen Lernen. In den Vereinigten Staaten sind Schulen aus Spargründen schon dazu übergegangen, mehr digitale Lernprogramme einzusetzen, weil ihnen das Personal fehlt. An den Privatschulen in den stark klassenabhängigen angelsächsischen Schulsystemen dagegen gibt es noch genug Lehrer, weil sie unter günstigeren Bedingungen arbeiten können. Insofern hält der Heidelberger PH-Professor Karl-Heinz Dammer es für möglich, dass die Digitalisierung zur Verschärfung von Bildungsungerechtigkeit beitragen könnte, »wie das Beispiel USA zeigt«.

Dammer hat im Auftrag des nordrhein-westfälischen Philologenverbandes ein Gutachten zur Digitalisierungsstrategie des Landes verfasst, das auf mehrere Veröffentlichungen des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums antwortet, das damals noch unter der Leitung von Kultusministerin Yvonne Gebauer (FDP) stand. Das Ministerium hatte den Lehrern in einem Strategiepapier empfohlen, analoge Medien zunehmend durch digitale zu ersetzen. Ein späteres Impulspapier II des Landes, das an die Strategie der Kultusministerkonferenz (KMK) »Bildung in der digitalen Welt« anknüpft, sollte Schulen und Lehrer dabei unterstützen, gemeinsam eine Zukunft des digitalen Lernens zu entwickeln.

Die Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Philologenverbandes, der Vertretung der Gymnasial- und Gesamtschullehrer, Sabine Mistler, stört sich daran, dass die Lehrerverbände in die Entwicklung des Impulspapiers II überhaupt nicht eingebunden waren. »Wir wünschen uns Offenheit und Transparenz«, sagte Mistler der F.A.Z. Ob die digitalen Lernmedien zu deutlich besseren Lernergebnissen führen, hält sie für keineswegs ausgemacht. Der Verband plädiert deshalb für eine offene wissenschaftliche Begleitung und Evaluation, die auch Gefahren und Grenzen der Digitalisierung deutlich benennt.

»Eine als ‘Bottom-up’ getarnte ‘Top-down’-Strategie« 
Viele davon finden sich bei Dammer, der ganz grundsätzlich kritisiert, dass die Digitalisierungsdebatte vornehmlich von spekulativen, wenn nicht utopischen Projektionen über die positiven Wirkungen der Digitalisierung geprägt ist. Die sogenannte »digitale Welt« werde als ein bereits gegebener Zustand dargestellt und die Alternativlosigkeit einer bestimmten politischen Entwicklung suggeriert. Während einerseits die Möglichkeit offener Abstimmungsprozesse über bestimmte Implementationsstrategien zwischen den beteiligten Akteuren behauptet werde, werde zugleich ein normativer Rahmen für die schulische Umsetzung der Digitalisierung vorgegeben. »Es handelt sich also um eine als ‘Bottom-up’ getarnte ‘Top-down’-Strategie, bei der offen ist, inwiefern sie . . . erfolgreich sein kann«, kritisiert der Philologenverband auf der Grundlage des Gutachtens. Die pädagogische Seite als für die Schulentwicklung ausschlaggebender Faktor sehen die Gymnasiallehrer vernachlässigt, »womit auch die professionelle Freiheit der Lehrkräfte gefährdet erscheint«.

Als besonders problematisch sieht der Verband die sogenannten »Learning Analytics«, deren didaktischen Nutzen er für begrenzt halt, weil Lernprozesse Algorithmen unterworfen werden, die in »bisher nicht gekanntem Umfang die Kontrolle« von Lehrern, Schülern und Schulen ermöglichten. Die so oft als Vorzug digitaler Medien angeführte Individualisierung habe nichts mit Subjektbildung im Sinne einer möglichst breiten Entdeckung und Entfaltung persönlicher Potentiale zu tun, sondern eher mit der »selbstverantwortlichen Anpassung an Fremdsteuerung« ...« 

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