Digitalisierung im Bildungssektor als Chance für soziale Gerechtigkeit

"Die Pandemie wirkt bei der Digitalisierung im Bildungswesen weltweit als Beschleuniger – in Industrieländern ebenso wie in sich entwickelnden Ländern. Birgt Educational Technology die Chance, um weltweit sozialer Ungerechtigkeit entgegenzuwirken und eine Teilhabe aller zu ermöglichen?
Mein erster Arbeitstag als Vorständin der Siemens Stiftung fiel Mitte März vergangenen Jahres auf das Datum, als Deutschland erstmals in seiner Geschichte in einen Lockdown versetzt wurde. Massiv waren die Veränderungen, die die Pandemie beschleunigen würden. Jede und jeder Einzelne war und ist betroffen. Unternehmen, Organisationen, gesellschaftliche, politische Systeme mussten in fast allen Teilen der Welt essenziell umdenken. Plötzlich war VUCA nicht mehr ein abstraktes Wortgeschöpf, ein Akronym aus der Managementsprache, sondern spürbar im Alltag aller Menschen – vom Kleinkind bis zum Ältesten. Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity drangen auch in der »sicher« erdachten westlichen Welt ins Bewusstsein. Sprunghaft, ungewiss, komplex, widersprüchlich stellt sich unser Leben unverhohlen dar. Auch wir als Siemens Stiftung wurden gefordert, zumal ein Schwerpunkt unserer Tätigkeit in deutschen und internationalen Bildungskooperationen liegt – ein besonders sensibler Sektor und essenziell betroffen durch die Krise. So stellten wir uns die Frage, wie die weltweiten Bildungssysteme mit solch einer Herausforderung umgehen werden. Was können wir als international agierende Stiftung dazu beitragen, dass das Bildungssystem mit all seinen Teilhabenden nicht nur irgendwie durch diese Zeit kommt, sondern wie kann die Bewältigung der Pandemie zu gesunden, nachhaltigen Veränderungsprozessen führen?

OER: Ein Instrument für mehr Bildungsgerechtigkeit 
Die Auswirkungen der Krise auf das Bildungswesen sind dramatisch. UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta H. Fore spricht von einer »katastrophalen Bildungskrise«. Gemäß einer Studie des UN-Kinderhilfswerks sind mehr als 168 Millionen Schüler:innen weltweit aufgrund von Maßnahmen gegen das Virus vom Unterricht ausgeschlossen. 214 Millionen Kinder – jedes siebte Kind der Erde – sollen mehr als drei Viertel ihres Unterrichts verpasst haben. Die Jüngsten der Gesellschaft seien die stillen Opfer der Krise, glaubt UNICEF und sieht einen Zusammenhang zum sozialen Status. Auch wenn in Industrienationen der Ausfall des Präsenzunterrichts oft nur durch eine unzureichende Umstellung auf digitales Lernen ersetzt werden konnte, trifft die Krise Kinder in Schwellen- und Entwicklungsländern härter. Zwei Drittel der 14 Länder, die sich von März 2020 bis Februar 2021 weitgehend im Lockdown befunden haben, liegen in Lateinamerika und der Karibik. Insgesamt 98 Millionen Schulkinder hatten und haben dort weitgehend keinen Zugang zu Bildung.

Was kann also über die Pandemie hinaus zur Unterstützung des Bildungssystems beigetragen werden, damit alle, auch sozial Benachteiligte, adäquat, daran teilhaben können? Ein Instrument der Demokratisierung von Bildung entwickelt sich seit einigen Jahren: Open Educational Resources (OER) – offen lizenzierte Unterrichtsmedien, idealerweise auf digitalen Plattformen frei zugänglich. Im Jahr 2012 verabschiedete der UNESCO-Weltkongress die »Paris OER Declaration« mit dem Ziel der Teilhabe aller Menschen an qualitativ hochwertiger Bildung. Dort heißt es, OER sind »Lehr-, Lern- und Forschungsressourcen in Form jeden Mediums, digital oder anderweitig, die gemeinfrei sind oder unter einer offenen Lizenz veröffentlicht wurden, welche den kostenlosen Zugang sowie die kostenlose Nutzung, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch Andere ohne oder mit geringfügigen Einschränkungen erlaubt«. Seit einiger Zeit verfolgen Länder wie die USA mit ihrem »National Education Technology Plan 2010«, aber auch Brasilien, die Niederlande, Polen und Großbritannien OER-Strategien. Internationale Akteure wie die UNESCO, die OECD, die EU sowie Stiftungen wollen offene Unterrichtsmedienportale in sich entwickelnden Ländern unterstützen. Denn besonders für diese Staaten kann der kostenfreie Zugang zu Bildungsmaterialien ein essenzieller Schritt zur Teilhabe ihrer Schüler:innen an Bildung sein. Schließlich wurde im November 2019 auf der UNESCO-Generalkonferenz eine »Recommendation« zu OER angenommen, in der sich die Mitgliedsstaaten verpflichten, OER stärker in ihrer nationalen Bildungsarbeit und -politik zu verankern..."


Über die Autorin: Dr. Nina Smidt ist seit dem 1. April 2020 Geschäftsführende Vorständin und Sprecherin des Vorstands der Siemens Stiftung. Vor ihrer Tätigkeit für die Siemens Stiftung war sie von 2011 bis 2020 Bereichsleiterin für Internationale Planung und Entwicklung in der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und von 2006 bis 2011 Geschäftsführerin der Bucerius Education GmbH an der Bucerius Law School in Hamburg. Von 2010 bis 2020 leitete sie zudem die amerikanische Stiftungstochter der ZEIT-Stiftung in New York als Präsidentin. Zuvor war Nina Smidt Stellvertretende Geschäftsführerin am International Center for Graduate Studies der Universität Hamburg und Programm-Managerin im Bereich Kommunikation an der Jacobs University in Bremen.


Zum Blog von Dr. Nina Smid auf Forum Bildung Digitalisierung.