Digitale Medien im Schulalltag: Tablets bitte erst ab Klasse 7
"Dank Pandemie wird die Schule endlich digitaler, freuen sich viele. Was für ein Irrweg, sagt diese Lehrerin. Sie plädiert für Handschrift und gegen Klassenchats.
Isabell Rhein ist Lehrerin an einem Gymnasium in Baden-Württemberg. Ihr Name ist geändert.
Tablets für Lehrkräfte, digitale Zuschaltung erkrankter Schüler und Schülerinnen in den Unterricht – zumindest das wird in deutschen Schulen bald als selbstverständlich gelten. Darin sind sich in der Theorie wenigstens alle einig.
In der Praxis habe ich an meiner Schule nur im dritten Stock WLAN. Zuschalten in den Unterricht hat bei mir ein einziges Mal funktioniert, ohne dass das Bild immer mal stehenblieb oder die Schülerin zu Hause mehrfach per Messenger schrieb, dass sie jetzt gerade leider nichts hören kann – parallel zum Unterricht im Klassenraum mit 30 Jugendlichen. Ich frage mich also als Erstes, wozu dieser Hype um Digitalisierung, wenn nicht einmal die technischen Voraussetzungen vorhanden sind?
Außerdem wird es höchste Zeit, Konzepte und Hausregeln für den Umgang mit digitalen Medien im Schulalltag zu erstellen beziehungsweise zu überarbeiten. Im Wechselunterricht war es Schülern und Schülerinnen zum Beispiel erlaubt, ihr Smartphone in der Schule zu nutzen, wann und wo sie wollten, um den ständig wechselnden Stundenplan zu verfolgen. Soll das so bleiben?
Im Kollegium gehen die Vorstellungen weit auseinander. In etlichen Lehrerkonferenzen haben wir uns schon mit Zukunftsvisionen beschäftigt. Heute steht ein ambitionierter Kollege vor uns, Anfang 30, er hat kaum das Referendariat hinter sich. Grob zusammengefasst lautet sein neues Schulkonzept: World Wide Web – wo, wenn nicht hier, können die Kinder die ganze Welt entdecken? Anstatt den Farbkreis in Kunst zu begreifen, indem die Kinder mit dem Pinsel verschiedene Farbtöne verrühren und auf Papier auftragen, schauen sie heute einfach zwei Lernvideos. Lückentexte auf Englisch? Gibt es zu jedem Thema unzählige. Die digitale Frauenstimme spricht die Wörter fehlerfrei vor, so oft man möchte. Das Herbarium, das man online findet, sieht auch viel akkurater aus als das selbst hergestellte im Schnellhefter. Ich schweife ab, weil ich mich daran erinnere, wie ich mit meiner heute erwachsenen Tochter früher durch den Wald lief, Blätter sammelte, um sie zu Hause in dicken Büchern zu pressen.
Das Smartphone gehört einfach dazu – wirklich?
Der junge Kollege ist gerade dabei, uns zu erklären, wie gründlich wir künftig unsere Schüler und Schülerinnen auf die multimediale Welt vorbereiten: Medienerziehung ab Klasse 5, Messenger-Regeln, Dokumente speichern mit System, Präsentationswerkzeuge, Literaturrecherche in Kooperation mit Medienexperten der Stadtbibliothek, Präventionskurse der Polizei, die vor den dunklen Seiten des Internets warnen – so machen wir die Jungen und Mädchen fit fürs Leben. Und ein Smartphone in der Hosentasche, das gehöre eben heutzutage einfach dazu…
Ich denke, dass man mit elf Jahren zuerst lernen sollte, wie man seinen Ranzen richtig packt und dass man seinen Platz im Klassenzimmer sauber hinterlässt, bevor man sich mit dem Speichersystem auf einem Rechner beschäftigt. Messenger-Regeln klingen vernünftig. Doch es wäre mir lieber, die Kinder erlebten zuerst, wie falsch es sich anfühlt, einen Mitschüler »Opfer« zu nennen und ihm dabei in die Augen zu sehen. Vielleicht sehen sie mit dieser Erfahrung später davon ab, einen solchen Ausdruck in eine WhatsApp-Gruppe zu tippen. Ich denke an die vielen Aktionen, die ich im Laufe der Jahre mit meinen Fünftklässlern durchgeführt habe. Alles mit dem Ziel, dass die Kinder einander vertraut werden, dass sie lernen, sich mit anderen direkt auseinanderzusetzen. Austausch über Spiele, Sport, gemeinsame Aktivitäten und nicht übers Handy. Im Stillen frage ich mich, ob mein junger Kollege schon einmal Einblick in Chats bekommen hat, zu denen Erwachsene keinen Zugang haben: Hier tituliert Mika Leo als »Mongo«. Auf die Frage, was Mika eigentlich gegen ihn habe, kassiert Leo bloß die Erklärung: »Du bist noch hässlicher wie deine Schwester!« Und gleich darauf folgen drei Smileys, die vor Lachen weinen müssen. Hat mein Kollege schon einmal so einen gequälten Leo auf der Jungstoilette vorgefunden, weinend, mit dem Handy in der Hand? Hat er einen anderen Leo schon mal getröstet, weil Mitschüler aus Spaß dessen Penis gefilmt und online gestellt hatten?
Wahrscheinlich nicht. Ich schon. Der Leo, mit dem ich nach der Penisfilmerei später dreimal beim Schulpsychologen saß – auch seine weinende Mutter war dabei –, brachte mich zu der Überzeugung, dass ich zumindest versuchen möchte, die Schule zu einem Ort zu machen, an dem sich mir anvertraute Kinder wohlfühlen. Ich will nicht, dass sie auf der Toilette fürchten müssen, belästigt zu werden. Deshalb stehe ich ein für Hausregeln wie »keine Handys im Schulgebäude« und ich lebe vor, wie man auch über einen Flur gehen kann, ohne Smartphone in der Hand. Die Schule ist ein Ort, an dem Kinder auch noch Kinder sein sollen. Nicht ständig erreichbar, nicht permanent auf dem Laufenden.
Der junge Kollege argumentiert jetzt mit Nachhaltigkeit. Was wir heute noch an Papier verschwendeten mit Arbeitsblättern und Schulheften, sei nicht mehr zeitgemäß. Wenn sich anstelle von dicken Schulbüchern und Heften Tablets in den Rucksäcken befänden, würden die Schultern jüngerer Kinder entlastet. Nun werde ich erst recht unruhig. Nicht nur, weil ich bezweifle, dass Tablets umweltfreundlicher sind als Papier, wenn man bedenkt, dass so ein Gerät nach zwei Jahren ausgedient hat. Ich sehe Fünftklässler ihre eigenen Märchen per Tastatur ins Tablet tippen. Erlernte Rechtschreibstrategien – das war dann wohl gestern. Heute gibt es ja die automatische Rechtschreibkorrektur. Und anstatt die selbst erfundenen Märchenfiguren mit Buntstiften zu malen, wählen sie dann irgendeine lustige Clipart aus. Ich glaube an den Satz: Von der Hand in den Verstand. Mit der Hand schreiben, malen, sammeln, experimentieren – so vertieft sich das Lernen.
Deshalb bin ich längst keine Digitalisierungsgegnerin. Selbstverständlich sehe ich Vorteile und Chancen, die uns die Arbeit mit digitalen Medien liefert. Und ja, mir ist klar, dass Schule auch die Aufgabe hat, Jugendliche auf ihr Berufsleben vorzubereiten, das inzwischen zu einem großen Teil aus der Arbeit an Computern besteht. Aber ich muss damit nicht bei Zehnjährigen anfangen..."