Grundschullehrerin berichtet anonym: "Wir sprechen von Rasenmähereltern, die ihrem Kind alles aus dem Weg räumen"
Im deutschen Bildungssystem mangelt es an allen Ecken: Es fehlen Kita-Plätze, Lehrer, gut ausgestattete Schulgebäude, digitale Lernmittel und vieles mehr. Auch wenn nach jedem schlechten Abschneiden bei einer Bildungsstudie die Aufregung groß ist, passiert danach wenig Substanzielles. Ein Gespräch mit einer Grundschullehrerin aus dem Rhein-Sieg-Kreis zeigt, was im Argen liegt und wo sich Ansatzpunkte für Verbesserungen ergeben. Mit ihr sprach Sylvia Binner. Die Lehrerin bleibt auf eigenen Wunsch anonym.
Wie fühlt man sich als Grundschullehrerin nach dem schlechten Abschneiden bei der jüngsten Pisa-Studie? Als Teil des Problems oder als Teil der Lösung?
Ein bisschen als beides. Vor allem aber denkt man: Ich habe es vorher schon erwartet.
Vorher schon erwartet, dass es wieder keine guten Noten für das deutsche Bildungssystem gibt? Dabei verlieren Sie die Kinder doch sechs Jahre vor dem Pisa-Testalter von 15 Jahren aus den Augen.
Dennoch können wir bereits erkennen, dass sie in der Studie wahrscheinlich nicht besser abschneiden, als die Schüler in den Jahren zuvor. Und natürlich sind wir Teil des Problems, weil es uns nicht gelingt, den Lernerfolg positiv zu beeinflussen. Zugleich liegt das Problem im Gesamtsystem.
Was beeinflusst das Bildungssystem und den Lernerfolg maßgeblich?
Das fängt bei Schulbehörden und beim Ministerium an, weil deren Vorgaben einfach nicht dazu geeignet sind, auf die vielfältigen individuellen Probleme einzugehen. Das sind aber auch Eltern, die das Thema Lesen nicht mehr ernst nehmen. Ich habe in meiner Klasse Kinder aus Familien, die besitzen kein einziges Buch. Und das ist das Bildungssystem, das auf veralteten Lehrplänen basiert, die nicht mehr zu unserer Gesellschaft passen.
Was hat sich denn so gravierend verändert?
Das Sprachvermögen der Kinder ist spürbar schlechter geworden. Das beobachte ich seit 20 Jahren als Lehrerin. Eine der Wurzeln liegt in der Digitalisierung. Wenn ich Eltern im Umgang mit ihren Kindern beobachte, sprechen sie nicht mit ihnen, sondern gucken stattdessen zu viel auf ihr Handy. Das sollte sich ändern. Dazu braucht es das Bewusstsein, dass ich mich als Elternteil permanent mit meinem Kind beschäftigen muss. Durch Gespräche und Vorlesen können Eltern ihrem Nachwuchs viel mitgeben.
Wie zugänglich zeigen sich Eltern, wenn Sie diese auf Lesedefizite ihrer Kinder ansprechen?
Wir sprechen Eltern in der Tat konkret darauf an. Wir geben ihnen Bücher mit, suchen Sponsoren, um die Bibliothek auszustatten. Wir haben angefangen, unsere Bibliothek auch um fremdsprachige Bücher zu erweitern. Damit Eltern, die leider noch nicht im deutschen Sprachraum angekommen sind, wenigstens Bücher in ihrer Muttersprache vorlesen können.
Hauptsache lesen? Egal in welcher Sprache?
Erst einmal ja. Später geht es darum, möglichst beide Sprachen zu beherrschen. Es ist ein Vorteil, wenn man zweisprachig aufwächst. Allerdings ist es nicht so, dass nur in Familien mit Migrationsgeschichte das Sprachvermögen schwindet.
Sondern?
Es gibt leider zunehmend Haushalte, die Bildung nicht wichtig nehmen. Und es gibt immer mehr Familien, die kratzen am Existenzminimum. Wenn sich Eltern zu 100 Prozent ihrer Zeit um die Beschaffung des Lebensunterhalts kümmern, bleibt für die Kinder keine Zeit übrig.
Defizite, die in anderen Ländern anscheinend besser von Bildungseinrichtungen ausgeglichen werden.
Da bin ich mir nicht sicher. Ganz ketzerisch stelle ich mir auch die Frage, ob wir bei PISA und anderen Tests nicht die einzige Nation sind, die das Ganze übertrieben ehrlich und ehrgeizig betreibt und deswegen so schlechte Ergebnisse erzielt.
Wie bitte?
Wir absolvieren im dritten Schuljahr mit VERA-3 einen Lernstandstest für Deutsch und Mathematik. Das ist im Vorfeld immer eine größere Geheimniskrämerei als anderswo. Wir bekommen die Aufgaben erst am Abend vorher, um sie bloß nicht vorher üben zu können. Dann bekommen die Kinder für den Bereich Lesen zum Beispiel einen Stadtplan. Also etwas, was sie so nicht unbedingt kennen und heute auch nicht mehr so unbedingt brauchen. Da würde es helfen, solche Aufgaben besser zu erklären. Oder noch besser: Die Aufgaben passender zur Lebenswirklichkeit zu formulieren.
Geht es darum, nicht länger nur Bildungsziele abzuprüfen, sondern systematisches Lernen zu lehren
Ja, genau.
Substanzielle Debatte statt kurzfristiger Hysterie?
Das ist meine Meinung. Bisher ist immer die Aufregung über schlechte Testergebnisse groß gewesen, aber wenig passiert. Wir haben kurzfristig an Symptomen herumgedoktert. Zum Beispiel gab es Instrumente für Kindergärten, die den Schuleintritt erleichtern sollten, oder Vorschulen für Kinder, die schulpflichtig waren, aber noch nicht schulreif. Die wurden wieder abgeschafft, weil nicht genug Geld da war. Schon vor Jahren haben wir darüber diskutiert, dass es Sprachförderbedarf für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund gibt. Als Basis diente der sogenannte Delfin-Test. Aber bald waren es leider so viele Kinder mit den Sprachentwicklungsstörungen, dass nicht genug Geld dafür da war, alle zu fördern... Eine Bankrotterklärung.
Wie verbreitet ist der Befund der Sprach- und Lesedefizite?
In meiner Klasse sind drei bis vier richtig gute Leser. Das sind die Kinder, in deren zu Hause Bücher eine Rolle spielen. Daneben gibt es sechs bis acht schwache Leser, davon zwei wirklich sehr schwache bei insgesamt 25 Kindern. Der Rest ist eher durchschnittlich. Die können einigermaßen lesen, aber es ist schwer ihr Interesse zu wecken.
Stimmt es, dass Grundschülern oftmals die motorische Fähigkeit fehlt, einen Stift zu halten oder mit einer Schere auszuschneiden?
Das stimmt. Auch diese Fertigkeiten bringen nicht mehr alle Kinder aus dem Elternhaus mit. Früher war es selbstverständlich, dass ein Kind eine Schere halten und entlang einer Linie etwas ausschneiden und zusammenkleben konnte. Darauf, dass diese Feinmotorik stimmte, konnte die Grundschule aufbauen. Dann kam die richtige Stifthaltung relativ schnell. Auch diese Fertigkeiten haben leider sehr nachgelassen. Das liegt auch daran, dass es inzwischen akzeptiert wird, wenn Kinder sich verweigern. Dann bastelt das Kinder in der Kita eben drei Jahre lang nicht, weil die Eltern sagen, wenn das Kind dazu keine Lust hat, muss es das auch nicht.
Die Eltern fördern das nicht?
Ich glaube, manche Eltern registrieren gar nicht, dass ihre Kinder zu etwas nicht in der Lage sind. Nach den Helikoptereltern sprechen wir jetzt von Rasenmähereltern, die ihrem Kind alles aus dem Weg räumen, in dem Glauben, es partnerschaftlich zu erziehen. Sie vermeiden jede Art von Diskussion und lassen ihr Kind machen, was es will.
Müssen die Kitas in die Bresche springen?
Das wäre eine Lösung, wenn denn alle Kinder eine Kita besuchen würden. Außerdem möchte ich das Problem auch nicht dorthin abschieben. Wir haben regen Kontakt mit den Einrichtungen, aus denen die meisten Kinder zu uns kommen. Ich weiß also, dass sie dort viele gute Angebote machen. Aber die müssten dann verpflichtend wahrgenommen werden. Es klinken sich anscheinend sehr viele Kinder aus. So erklärt sich auch, dass Kinder zunehmend keine Misserfolge ertragen. Das sind sie einfach nicht gewöhnt. Dabei bieten gerade Misserfolge die besten Lernchancen.
Lässt sich die Rollenverteilung zwischen Eltern, Vorschulerziehung und Schule neu justieren?
Das ist oftmals schwierig, obwohl wir Informationsabende durchführen, um das zu klären. Aber die Eltern, bei denen es dringend wäre, die erreichen wir oft nicht. Bildung in Deutschland wird immer mehr zum Glücksfall. Abhängig davon, in welchem Elternhaus, in welcher Stadt und in welcher Schulklasse ich lande.
Geht die Schere weiter auf, zwischen den Rasenmäher-Eltern, die ihrem Kind alles aus dem Weg räumen, und denjenigen, die sich nicht kümmern?
Leider ja. Es gibt Eltern, die sind einfach froh, dass ihre Kinder in der Schule sind, weil sie sich in der Zeit nicht um sie kümmern müssen. Manche, weil sie selbst einfach genug am Hals haben, womit sie nicht klar kommen.
Ist Mathematik für Grundschüler ein Angstgegner?
Mathe ist in der Grundschule sehr spielerisch. Da trauen sich die Kinder schon ran. Aber für Mathe gilt die Frage, wie übrigens auch für alle anderen Fächer, ob das, was auf dem Lehrplan steht, noch zeitgemäß ist. Wäre es nicht wichtiger, wenn wir den Kindern neben Grundlagen im Lesen, Schreiben und Rechnen das beibringen, was heute nicht mehr in allen Elternhäusern mitgegeben wird. Zum Beispiel Toleranz, Respekt und Teamfähigkeit, sie zu selbstständigen Geistern entwickeln, die in der Lage sind, sich Informationen zu suchen, diese bewerten lernen. Sind Plusquamperfekt, Präteritum und Perfekt für die Grundschule noch zeitgemäß? Oder sollte es darum gehen, die Kinder zu weniger ich-bezogenen, teamfähigen Wesen zu erziehen?
Die Frage ist, was Kinder wissen und können müssen, um in einer modernen Gesellschaft bestehen zu können.
Genau. Also jenseits von Lesen, Schreiben, Rechnen, also den Grundrechenarten, einem gewissen Verständnis für naturwissenschaftliche Phänomene aus dem Sachunterricht. Auch Sport wird immer wichtiger, genauso wie Wissen über gesunde Ernährung und Aspekte wie Selbstwirksamkeit und Strategien zur Problemlösung. Fünf, sechs, sieben Kinder aus meiner Klasse beherrschen so etwas. Die anderen kriegen das noch nicht hin. Das müssten wir mehr in den Vordergrund stellen. Dann wären die Kinder anschließend in der Lage, sich selbstständig Dinge anzueignen.
Zur Person: Wenn es um das heiß diskutierte Thema Schule geht, sind es meist Bildungspolitiker, Gewerkschafter, Schulleiter oder andere Mandatsträger, die zu Wort kommen. Der General-Anzeiger wollte wissen, wie es im Alltag im Klassenzimmer einer Grundschule aussieht.
Die Suche nach einer Lehrkraft, die unter Namensnennung mit uns redet, war schwierig. Die Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich nicht autorisiert, im Namen ihrer jeweiligen Schule zu sprechen, fürchten womöglich sogar Anfeindungen, sei es aus den Schulbehörden, dem Kollegenkreis oder der Elternschaft.
Deshalb haben wir uns darauf eingelassen, das Interview mit einer Lehrerin, die seit vielen Jahren an einer Grundschule im Rhein-Sieg-Kreis unterrichtet, anonymisiert zu veröffentlichen. Sie betreut zurzeit als Klassenlehrerin ein drittes Schuljahr. Ihre Schwerpunktfächer sind Deutsch, Sachkunde und Sport.
Muss Schule viel mehr Erziehungsaufgaben übernehmen?
Auf jeden Fall.
Kann sie das leisten?
Im Moment leider nicht.
Was müsste passieren, damit sie es kann?
Es fehlt Geld. Und es fehlen Lehrkräfte. Aber auch anderes Personal. Dann könnten wir in kleineren Gruppen unterrichten. Ich meine, wenn wir nach Finnland oder Estland gucken, da ist die Klassenstärke bei 15, maximal 17, und die Lehrkräfte sind zu zweit. Ich hatte jetzt einen Gymnasiasten als Schulpraktikanten. Schon das hilft viel. Das könnten ja auch Lehramtsstudierende im Laufe ihres Studiums sein. Das hätte den Zusatznutzen, dass sie früher praktische Erfahrungen sammeln. Das wäre ein sehr großer Fortschritt.
Und darüber hinaus?
Die Lehrpläne müssten grundlegend überarbeitet werden, genauso wie die Unterrichtsmaterialien. Wir verwenden zum Beispiel seit 13 Jahren dasselbe Lesebuch. Das ist nicht mehr aktuell. Aus Geldmangel können wir auch das Sprachbuch nicht erneuern und setzen zum Teil noch viel zu viele Arbeitsblättter ein. Wären wir digital weiter, müsste da nicht jeder für sich alleine herumwurschteln. Für Vereinheitlichung und Klarheit, in der Schulpolitik wäre weniger Föderalismus besser.
Eher mehr Struktur als mehr Flexibilität?
Ich möchte flexibel arbeiten, aber gerne anhand einer Struktur. Flexibilität in allem, macht mehr Arbeit. Sie führt zum Beispiel dazu, dass fünf verschiedene Grundschulen in einer Stadt fünf verschiedene Zeugnisse ausgeben. Hier wären Vorgaben der Schulbehörden effektiver.
Könnten angesichts von 40.000 fehlenden Lehrkräften bürokratische Aufgaben andere erfüllen?
Natürlich könnte jemand anderer sich um Zeugnisse kümmern oder Arbeitspläne schreiben. Nicht nur, dass wir die Zeugnisse schreiben, wir müssen kopieren, siegeln, unterschreiben, in den Akten ablegen. Das kostet unglaublich viel Zeit. Es wäre viel gewonnen, wenn für solche Dinge jemand anders da wäre.
Welches sind die Momente, in denen Sie immer noch wissen, warum Sie Lehrerin geworden sind?
Immer dann, wenn die Kinder etwas verstanden haben. Wenn sich das in ihrem Gesicht widerspiegelt. Oder einfach morgens, wenn sie mich lächelnd begrüßen.
Quelle: General-Anzeiger, Autorin: Sylvia Binner, Head of Editorial Development