BMBF veröffentlicht OER-Strategie: Bringt das Papier die digitale Bildung in Deutschland voran?

Seit letzter Woche liegt sie vor: Die lang erwartete Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) für offene Bildungsmaterialien, besser bekannt als »Open Educational Resources« (OER). Georg Fischer fasst das Papier zusammen und gibt eine erste Einschätzung zu den geplanten Maßnahmen.
Vorgestellt wurde das Strategie-Papier zusammen mit OERinfo, der Informationsstelle für Open Educational Resources, mit der auch iRights.info kooperiert. Der Erstellung war ein Konsultationsprozess vorausgegangen, bei dem interessierte Kreise und Expert*innen Stellungnahmen und Empfehlungen einbrachten.


OER: Unter »Open Educational Resources«, kurz OER, werden meist Lehr- und Lernmaterialien verstanden, die ungehinderter genutzt, kopiert, verändert und wieder veröffentlicht werden können als herkömmliche Materialien wie etwa klassische Schulbücher. Erreicht wird das durch freie Lizenzen, die den Verwendenden mehr erlauben als das Urheberrecht allein.


OER und digitale Bildung in Deutschland vorantreiben: Wie will das BMBF dabei vorgehen? 
Das etwa 25 Seiten starke Strategie-Papier (PDF-Download hier) gliedert sich in zwei große Abschnitte: Zuerst ordnet das BMBF die Strategie ein und erklärt die Zielsetzung. Danach definiert das Papier sechs verschiedene Handlungsfelder, in denen das Ministerium offene Bildungsmaterialien stärken, fördern und strategisch verankern will.

Mit seiner OER-Strategie möchte das BMBF einen »tiefgreifende[n] Wandel der Lernkultur« forcieren. Dadurch begegne das Ministerium dem generellen Defizit, das sich aus der Fortführung analoger Strukturen im Bildungsbereich ergeben würde:

Der Ausbau von OER-Strukturen und digitaler Bildung generell kann jedoch nicht die Fortschreibung analoger Bildungsinhalte und -strukturen bedeuten. Erfolgreiche Strategien im Analogen werden den Anforderungen und Chancen digitaler Medien und der Lehr- und Lernszenarien im 21. Jahrhundert und einer Kultur der Digitalität nicht gerecht.

Leitlinien und Anreize hin zu einer »Kultur der Offenheit« 
Dem Bundesministerium ist es wichtig zu betonen, die großen Leitlinien für die OER-Förderung in Deutschland vorzugeben. Es möchte »wirksame Strukturen für OER« unterstützen und »Impulse in der digitalen Bildung und für eine insgesamt veränderte Lehr- und Lernkultur« setzen. Das solle durch »Anreizsysteme zur Erstellung und Nutzung von OER« geschehen. Auch begrüßt und stärkt das BMBF explizit eine »Kultur der Offenheit«, die es erlaube, OER entwickeln, teilen und verbessern zu können.

Finanzielle Zuwendungen für OER-Projekte durch Bundesmittel dürften sich zukünftig an diesen Leitlinien orientieren. Die sogenannte »Kulturhoheit der Länder«, also die föderalen Zuständigkeiten der einzelnen Bundesländer bei Bildungsfragen, dürfte nicht tangiert sein. Zuletzt hatte etwa das Bundesland Nordrhein-Westfalen OER-Maßnahmen angekündigt und mit ORCA.nrw ein eigenes OER-Landesportal eingerichtet.

BMBF: OER sollen auf allen Ebenen des Bildungssystems wirksam werden 
Wie aber will das Ministerium OER »als selbstverständliche Bestandteile digitaler Bildung auf allen Ebenen des Bildungssystems« verankern? Dazu schweben dem Ministerium Maßnahmen in sechs Handlungsfeldern vor.

Zunächst sollen die OER-Kompetenzen im Bildungsbereich gestärkt werden. Das ist ein naheliegender Punkt, damit OER nicht (nur) von klassischen Schulbuchverlagen, sondern auch von Lehrkräften selber (weiter-)entwickelt werden können. Pädagogische Fachkräfte, also Lehrer*innen in Schulen, aber auch jene in Hochschulen, Bildungs- und Kultureinrichtungen, sollen in die Lage versetzt werden, didaktisch wertvolle Lehrmaterialien als OER erstellen, verbreiten und darauf zugreifen zu können. OER sollen daneben fester Bestandteil der Lehrpläne und Kompetenzen dazu über Fortbildungen vermittelt werden. Wer sich unsicher ist, soll Beratung und Unterstützung bekommen, etwa bei Rechts- und Lizenzfragen.

Diesen Ansatz unterstreichen auch die Schlagwörter Open Educational Practices (OEP) und Öffentliches Geld, Öffentliches Gut (ÖGÖG), die das zweite Handlungsfeld abstecken. Damit rücken die Prozesshaftigkeit und das Prinzip der Unabgeschlossenheit von OER in den Vordergrund: Denn offen lizenzierte Materialien haben den Vorteil, sich jederzeit anpassen und verbessern zu lassen. Dadurch werden Synergien mit der öffentlichen »Forschung, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, aus Verlagen oder der pädagogischen Praxis« erleichtert. OER sollen auf diese Weise zudem in ihrer Qualität gesichert werden. Rechtlich-technische Verriegelungen öffentlich finanzierter Lehrmaterialien (etwa durch DRM, Paywalls, etc. von privaten Unternehmen) weist das BMBF indirekt zurück. Auch die Vorstellung von Lehrkräften als »dauerhaft Lernende« bewirbt das BMBF in dem Papier:

Das gemeinsame, iterative Erstellen, Mischen, Überarbeiten, Anpassen, Differenzieren, Individualisieren und Perfektionieren von Bildungsmaterialien ist gleichermaßen Grundlage und entscheidender Faktor, damit OER Gewinn bringend in der Bildung eingesetzt werden.

Im dritten Handlungsfeld identifiziert das Ministerium geeignete technische Mittel und Infrastrukturen, die den Bedarfen von OER (besser) gerecht werden. Dazu zählen neben dem gezielten Einsatz von Creative-Commons-Lizenzen insbesondere Suchmaschinen und Repositorien, Lernmanagement-Systeme und andere OER-Infrastruktursysteme mit passenden technischen Schnittstellen. Das BMBF betont den offenen Charakter durch die Forderung nach Open-Source-Programmen, mit denen sich Lock-in-Effekte, also schwer aufzubrechende Abhängigkeiten von einzelnen Anbietern, abwenden ließen.

Eine Brücke zwischen OER und Arbeitswelt sieht das Strategie-Papier auch vor: Das BMBF nennt dieses Handlungsfeld etwas kryptisch »Innovation und lernortübergreifende Bildung«. In diesem Kontext sieht das Ministerium Verbindungen zu außerschulischen und nonformalen Bildungsangeboten (konkret genannt: Bibliotheken und Volkshochschulen). Aber auch die berufliche Bildung, unter anderem bei Ausbildungsbetrieben, Berufsschulen und Einrichtungen der überbetrieblichen Ausbildung, adressiert das Papier. Das solle den Austausch zwischen den Institutionen befördern und etwaige Hürden abbauen.

Als Begleitung zu diesem komplexen und alles anderes als trivialen Transformations-Prozess sieht das BMBF rahmengebende wissenschaftliche Studien und praxisbezogene Forschung vor. Auch soll es Austauschformate geben, etwa Workshops, Barcamps oder Peer-Learning-Angebote. Solche »kooperative[n] Formate und Vernetzungsangebote mit ihren positiven Erfahrungen und Effekten für Institutionen, Lehrende und Lernende haben sich bei bisherigen Förderinitiativen des BMBF bewährt«, so das Ministerium in seinem Papier. Eine allgemeine Vernetzung und die Stärkung des Community-Gedankens von OER dürften davon profitieren.

Schließlich kontextualisiert das BMBF seine OER-Strategie, indem es das Zusammenführen von Initiativen und Akteuren digital unterstützter OER-Praxis als sechstes Handlungsfeld beschreibt. Hier sind verschiedene Angebote und Maßnahmen zum Zusammenspiel genannt, etwa der DigitalPakt Schule oder die Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Offensichtlich stellt sich das Ministerium vor, OER-bezogene Bemühungen im Zusammenspiel mit bestehenden (oder zukünftigen) BMBF-Initiativen zu denken und praktisch zu verzahnen.

Welche Wirkung erzielt die OER-Strategie? 
Es liegt in der Natur von Strategie-Papieren, dass sie sehr grundsätzlich formuliert sind. Das merken Leser*innen zum Beispiel daran, wie das Verhältnis von abstrakter, zukünftiger Vision und konkreten umzusetzenden Maßnahmen gestaltet ist. Das BMBF-Papier macht dabei keine Ausnahme. Viele Schlagworte, manchmal redundant wirkende Formulierungen und positiv besetzte Beispiele vermitteln eine Perspektive, unter der sich die angesprochenen Kreise wiederfinden und ihre Kräfte bündeln sollen.

Stellt man die rhetorischen Anteile eines solchen Papiers in Rechnung, klingt dennoch die umfassende Idee eines OER-Ökosystems durch. Diese nimmt die Vorteile der Offenheit genauso ernst wie die dafür zu überwindenden Hürden. Außerdem macht das BMBF durchaus glaubhaft: Will man OER als allgemeines Prinzip durchsetzen, braucht es mehr als Einzel-Initiativen. Es braucht eine koordinierte Anstrengung. Gerade die politische Legitimation von OER dürfte das Papier damit deutlich steigern.

Lob, Kritik, Verwunderung: Erste Reaktionen aus der OER-Szene zu Details und Gesamtkonzept 
Das Bündnis Freie Bildung hatte bei der BMBF-Konsultation im Vorfeld teilgenommen und sich eingebracht. In einem Blogpost begrüßt die Initative die Strategie als »richtungsweisend«. Sie bemängelt allerdings den späten Zeitpunkt der Veröffentlichung: Während der Corona-bedingten Schul-Schließungen hätte es entsprechende OER-Leitlinien gut brauchen können. Daneben kritisiert das Bündnis Freie Bildung einzelne Punkte, etwa »die fehlende Verpflichtung zu CC0 und CC BY (-SA)« oder die angedachte Rolle der Hochschulen, die das Papier »in erster Linie als forschende Akteur*innen«, nicht aber als »(zentrale) Akteur*innen in der Kompetenzentwicklung« konzipiere.

Weniger auf die Details des Papiers, sondern mehr auf den gesamtstrategischen Ansatz bezogen äußert sich Dominic Orr. In einem englischsprachigen Blogpost hebt der Policy Analyst die Einbettung der Strategie in größere bildungspolitische Entwicklungslinien hervor. Er lobt, dass die OER-Strategie ambitioniert sei, experimentelle Ansätze herausstreiche und eine Erhöhung der sozialen Durchlässigkeit im Bildungssystem adressiere. Außerdem betont Orr, dass sich die Strategie an den UNESCO-Richtlinien für OER orientiere.

Nicht ganz so überzeugt kommentiert OER-Vertreter Jöran Muuß-Merholz das Papier auf OERinfo. Ihm zufolge seien zwar »viele interessante und erfreuliche Ansätze in der Strategie« zu erkennen. Er kritisiert aber die im Papier verwendete OER-Definition. Diese entspreche nicht dem Stand der UNESCO oder anderer etablierter Definitionen, sondern falle wegen ihrer Einschränkungen dahinter zurück. Konkret meint Muuß-Merholz diese Passage:

OER sind Bildungsressourcen jeglicher Art, die meist als Materialien unter einer freien und offenen Lizenz, insbesondere einer CC-(Creative Commons)-Lizenz veröffentlicht werden. (Hervorhebung durch iRights.info).

Muuß-Merholz wertet die Einschränkung durch das Wort meist und eine ähnliche Formulierung nicht nur als Ungenauigkeiten. Vielmehr beträfen sie das Kernprinzip von OER. Die kritisierten Formulierungen seien nicht nachvollziehbar und »schlicht falsch«. Das öffne »nicht einen Türspalt, sondern ein Scheunentor für Beliebigkeit im Verständnis davon«, was OER seien, so Muuß-Merholz.

Auch die Form der Veröffentlichung sorgte für Wirbel 
»
Grau ist im Leben alle Theorie – aber entscheidend ist auf’m Platz.« Die Fußball-Weisheit, die der Trainer Alfred Preißler eigentümlich für den Sport prägte, gilt auch hier. Denn entscheidend ist nun, wie die Adressat*innen der OER-Strategie – Lehrkräfte, Bildungsinstitutionen, aber auch Unternehmen – diese aufnehmen, interpretieren und in ihrem Alltag umsetzen. Werden aus den abstrakten Ideen wirksame Projekte innerhalb (und auch außerhalb) der vorgegebenen Leitlinien?

Bemerkenswert sind daher auch die Irritationen, die die Veröffentlichungsform der Strategie in der OER-Community auslöste: Einerseits die nicht-öffentliche Präsentation der Strategie per Video-Konferenz, wie das Zentrum für Wissenschaftsdidaktik auf Twitter bemerkt. 

Andererseits die technische Besonderheit, dass das PDF-Format des Strategie-Papiers zunächst einen Kopierschutz enthielt. Dieser erlaubte zwar das Markieren, aber nicht das Kopieren des Textes. Das veranlasste Jöran Muuß-Merholz dazu, eine kopierschutzfreie Version als Google-Document bereitzustellen.

Tatsächlich wirkt der Kopierschutz des Papiers auf den ersten Blick paradox. Denn es fordert ja selbst zum offenen Kopieren im Sinne von OER auf. Zumindest beförderte die Hürde die Kreativität der Community: Eine kopierschutzfreie und kollaborative Lösung war schnell gefunden. Für die Widrigkeiten, die eine umfassende Durchsetzung von OER im Bildungssektor zweifellos mit sich bringen, ist man dort also gerüstet.

Quelle: irights.info, Autor: Georg Fischer