Schule während Corona: Die Einsamkeit des Schülers

"Erfahrungsbericht einer verärgerten Mutter: Im Distanzunterricht erweist sich mehr denn je, welcher Lehrer sich wirklich kümmert und welcher nicht.
In den ersten Tagen war die Enttäuschung groß bei meinem Sohn. »Haben die Lehrer mir was geschrieben?«, fragte er jeden Morgen. Sie hatten nicht. In der zweiten Woche des Homeschoolings hatte mein Sohn nichts mehr erwartet von seinen Lehrern, er hatte auf nichts mehr gewartet. In der zweiten Woche hatte sich mein Sohn, 5. Klasse, Gymnasium, seinen Reim darauf gemacht gehabt, wie Homeschooling im Lockdown funktioniert. Nämlich so: Die Lehrer stellen Aufgaben ins Schulportal, liefern Anhänge zum Ausdrucken dazu, geben kurze Anweisungen, was wie zu tun ist und setzen ein Ultimatum, bis wann die Aufgabe mit welchen hochgeladenen Arbeitsblättern oder abfotografierten Seiten aus dem Schulheft abzugeben ist. Hat das Kind das alles gemacht, ist der Rest Schweigen: keine Rückmeldung, kein Lob, keine Anregungen, keine hilfreichen Hinweise. Es kam nichts von dem, was die Beziehung eines Lehrers zu seinem Schüler ausmacht. Uns Eltern war Distanzunterricht versprochen worden. Unterricht ist das nicht.

»Die Lehrer erfüllen ihre Pflicht nicht, das ist unglaublich«, sagt eine Mutter unserer Klasse. Der Elternsprecher sagt: »Da sieht man mal, wie gering das Interesse an den Kindern ist.« Er hat dieser Tage eine Rundmail an die Lehrer geschrieben. Er bedaure es sehr, antwortete der Klassenlehrer, aber anders gehe es zurzeit nicht. Es klang wie die Hotline des Telefonanbieters. Auch da wird Bestandskunden ja gerne mal nicht die ganze Wahrheit berichtet. Die ganze Wahrheit ist: Es geht anders. Besonders an Schulen, an denen insgesamt und verbindlich das Kind im Zentrum steht – gerade in diesen Zeiten.

An unserer Schule scheint das nicht der Fall zu sein. Und eine Umfrage im Bekanntenkreis liefert ebenso ernüchternde Erfahrungen auch andernorts. Die Ausnahmen unter den Lehrern meines Sohnes sollen hier nicht unerwähnt bleiben: Zwei von acht haben sich mal gemeldet, schriftlich: Einmal die Deutschlehrerin, die seinen Aufsatz wohlwollend kommentierte. Er las es zweimal laut vor, so stolz war er. Mir wurde da bewusst, wie viel das Urteil eines Lehrers einem Elfjährigen bedeutet. Ist das den Lehrern auch bewusst? Die zweite Nachricht, von der Biolehrerin, war nicht erbaulich. Sie tadelte meinen Sohn, weil er ein Arbeitsblatt nicht hochgeladen hatte.

Das ging eigentlich auf meine Kappe. Denn fürs Hochladen, das nach Verstreichen des Abgabetermins nicht mehr möglich ist im Schulportal, bin ich zuständig, weil ich zu bestimmten Uhrzeiten den Laptop unbedingt brauche. Homeoffice haben wir nämlich auch. So wie viele. Also bat ich die Biolehrerin um Nachsicht und erklärte ihr, dass mein Sohn die Arbeit tatsächlich erledigt hatte und ich sie per Mail nachschicke. Die Antwort der Biolehrerin: Mails akzeptiere sie nicht! Ich möge künftig bitte achtsamer sein. Ihr Vorschlag: Mein Sohn solle vor meinen Homeoffice-Zeiten die Arbeiten erledigen.

Vielen Dank auch für den Tipp. Das würde dann bedeuten: bis 10 Uhr. Das wiederum würde bedeuten: Mein Sohn müsste um 5 Uhr in der Früh beginnen. Vier bis sechs Stunden täglich sitzt er an den Aufgaben in Deutsch, Englisch, Mathe, Erdkunde, Kunst, Musik, Religion, Sport und Biologie – mit Pausen selbstredend.

Zu ihrer Verteidigung sei gesagt: Das weiß die Biolehrerin offensichtlich nicht. Denn offensichtlich sprechen sich die Lehrer über Umfang der Aufgaben und Abgabezeiten nicht ab. Die Mutter eines Klassenkameraden sieht das anders. Sie hat nämlich einen Verdacht. Da unsere Kinder als Viertklässler wegen des Lockdowns im Frühjahr kein zweites Halbjahr hatten, starteten sie mit reichlich Rückstand ins Gymnasium. »Den sollen wir jetzt zu Hause aufholen«, argwöhnt meine Homeschooling-Kollegin, »weil wir da Eins-zu-eins-Betreuung machen. Die Lehrer wissen ganz genau, wie viel sie uns zumuten.« 

Hört man sich unter Fünft- und Sechstklässler-Eltern auch anderer Schulen um, wird in der Tat klar: Die meisten machen aus der Not eine Tugend, führen die Kinder durch den Dschungel der täglichen Aufgaben, erklären, korrigieren, wiederholen, motivieren... Welcher Fünftklässler mit Rückstand in Mathe sollte denn plötzlich in der Lage sein, sich das Dividieren mit dreistelligen Divisoren selbst beizubringen, die Subtraktion mit mehreren Subtrahenden? Unsere Klasse hat es ja noch nicht einmal im Präsenzunterricht zwischen August und Dezember gelernt.

Jetzt, so hört man allenthalben von den zu Schulpulten umgewidmeten Küchentischen, machen die Kinder Quantensprünge. Wohl dem, der Eltern hat, die’s selbst noch können, die auch schulreifes Englisch sprechen, deren Muttersprache Deutsch ist, die vor allem genügend Zeit aufbringen können.

Wie die Lehrer die mehr oder weniger von den Eltern beeinflussten Lernergebnisse fair benoten wollen, bleibt ihr Geheimnis. Denn auf Noten, das haben sie uns vorher angekündigt, wollen sie nicht verzichten. Darin nun sind sie ganz pflichtbewusste Lehrkräfte. Die Leistungen im Homeschooling würden sich auf die eine oder andere Weise niederschlagen, teilte die Schule zu Beginn des Lockdowns mit. Kultusminister Alexander Lorz hatte fünf Tage vor Aussetzung der Präsenzpflicht in seinem Brief an uns Eltern zwar Gegenteiliges versprochen, aber an Widersprüche, auch in der Bildungspolitik, hat man sich ja gewöhnt.

Einer dieser Widersprüche empört mich dennoch unvermindert: Da warnen Schulakteure aller Hierarchieebenen vor der Gefahr, Kinder aus bildungsfernen Familien könnten im Homeschooling abgehängt werden, und dann verschärfen sie dieses Problem noch mit ihrer Ignoranz. In einem Gespräch mit mir über Kinder, die man im Homeschooling nicht mehr erreicht, schlug ein Sozialwissenschaftler vor, Schulen müssten Wege aufsuchender Pädagogik finden: also gezielt auf die Familien zugehen, die Kinder quasi abholen. Eine Grundschulleiterin wehrte sofort ab: »Na, der stellt sich das so einfach vor. Das müsste man ja organisieren.« 

Da stellt sich die Frage: Wer benotet eigentlich die Homeschooling-Fähigkeiten der Lehrer? Wer schaut, wie sich die verschiedenen Schulen darin schlagen? Die Antwort mag niemanden überraschen: Niemand schaut sich das an. Es erwartet auch niemand irgendetwas von Schulleitungen, und einige Schulleitungen wiederum erwarten nichts von den Lehrern. Standards werden nicht verbindlich gesetzt. Weder für den Unterricht noch für die Beziehungspflege.

Aufschlussreich war ein Leitfaden, den das Kultusministerium unlängst an die Schulen geschickt hat. Darin definieren die Autoren doch tatsächlich den Begriff Unterricht, man kennt offensichtlich seine Pappenheimer. Der Laie staunt: Unterricht, so das Ministerium an die Lehrkräfte, zeichne sich durch Kontakt und Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler aus, durch einen »gesteuerten Lernprozess«. Wer hätte das gedacht?

Dafür aber, zugegeben, müssten sich die Lehrer samt und sonders mal mit der Technik für Online-Konferenzen, mit Methoden für altersgerechten Online-Unterricht vertraut machen – oder zur Not zum Telefon greifen. Aber es drängt sie ja keiner dazu. Kein Lehrer muss sich vor irgendwem dafür rechtfertigen, wenn er es in einem Jahr Pandemie noch nicht geschafft hat, sich die wenigen Kenntnisse draufzuschaffen, die man für eine Videokonferenz braucht. Im Gegenteil: Nicht wenige Lehrer, so räumt selbst die Lehrer-Gewerkschaft ein, verweigerten wie ehedem noch jede Fortbildung, weil Fortbildungen nun einmal nicht zu den Dienstpflichten gehören.

So ist es für Kinder letztlich Glückssache, ob sie es mit zugewandten oder abgewandten Typen zu tun haben, wie viel ihre Lehrer bereit sind zu investieren fürs Wohl der Kinder, wie aktiv sie gerade in der Pandemie dazu beitragen, dass die Kinder das lernen, was die Lehrer in ihren Aufgabenstellungen durchaus offensiv von ihnen verlangen und was ja auch wichtig ist: selbstständiges, zielgerichtetes Lernen, Vertiefen, Denken. Es lässt sich sagen: Die Kinder, soweit man sich umhört, stellen sich der in der Notlage gebotenen Herausforderung. Um so erstaunlicher ist es, dass viele Lehrer an sich selbst nicht denselben Maßstab setzen. Das pädagogische Drama lässt sich so zusammenfassen: Ausgerechnet die Lehrer sind ein schlechtes Vorbild. Den Eindruck, den sie damit erwecken, wissen schon Fünftklässler präzise zu äußern: »Die Lehrer haben doch selbst keinen Bock auf Distanzunterricht«, sagt mein Fünftklässler..."

Zum Artikel der Frankfurter Rundschau.de.