Jede Woche ein Tag Distanzunterricht – und das hat nichts mit Corona zu tun
Nur noch für vier Tage die Woche im Klassenraum: Schulleiter entwerfen ein Konzept, wonach die Schüler nicht mehr jeden Tag in die Schule kommen. So soll der Lehrermangel aufgefangen werden – und der Unterricht moderner. Greift das Modell über Sachsen-Anhalt hinaus?
Für Hans-Reiner Homann ist der neue Plan die letzte Chance. »Wenn wir damit scheitern, brauchen wir nicht mehr anzutreten«, sagt der Leiter der Sekundarschule am Burgtor in Aken an der Elbe. Derzeit tüftelt Homann an einem Konzept, nach dem seine Schüler vier Tage die Schule besuchen und an einem Tag in Hybridform Lernaufträge bearbeiten. Hauptsächlich soll das zu Hause geschehen.
»Der Wissenserwerb soll eigenverantwortlich und zum großen Teil von ihnen selbstbestimmt geleistet werden«, sagt Homann. »Probeweise wollen wir das Konzept ab dem kommenden Halbjahr ausprobieren.«
Der bundesweite Lehrermangel trifft Sachsen-Anhalt besonders hart. Bei der jüngsten Ausschreibung des Landes konnte nicht einmal für jede zweite Stelle ein Bewerber gefunden werden. Jedes Jahr werden etwa 1000 Lehrer pensioniert – aber nur rund 400 schließen das Referendariat ab. Ein Drittel aller neuen Lehrkräfte sind Seiteneinsteiger.
Jedes Bundesland legt sich nun seine eigene Strategie gegen den Mangel zurecht. Klassenstärken werden erhöht, die Stundentafel gekürzt, Randstunden gestrichen. Berlin verbeamtet seine Lehrer wieder, und Sachsen zahlt Referendaren in ländlichen Schulen 1000 Euro Zulage – sofern sie sich verpflichten, mindestens fünf Jahre nach dem Abschluss zu bleiben. Und in Sachsen-Anhalt wird derzeit an einem neuen Unterrichtskonzept gearbeitet, das im kommenden Februar starten soll. Die Schüler arbeiten dabei meist einen Tag in der Woche in einem Betrieb oder am heimischen Schreibtisch.
Vor rund einem Jahr hatte Schulleiter Homann die Notbremse gezogen und öffentlich den massiven Unterrichtsausfall beklagt. »Wir konnten nur noch die Hälfte des Stundenplans unterrichten, meine Kollegen machten viele Überstunden, um überhaupt den Stundenplan in Ansätzen zu erfüllen«, erzählt Homann. »Es war eine Bankrotterklärung.« Fächer wie Französisch, Kunst, Geschichte, Sozialkunde oder Ethik fielen für die Klassen 5 bis 9 dennoch aus. Lediglich für die Abschlussklasse 10 war eine weitgehend normale Unterrichtsversorgung sichergestellt. Schüler und Eltern gingen gegen den massiven Stundenausfall auf Straße.
Homann wurde daraufhin zu Beginn des Jahres zu einer Anhörung in den Magdeburger Landtag eingeladen. »Ich skizzierte ein Konzept, wie man digitale Lerninhalte in den Wochenplan einbauen kann«, sagt er.
»Das neue Konzept ist jetzt unsere letzte Chance«
Drei Monate später verfasste Kultusministerin Eva Feußner (CDU) einen Brief an alle Leiter von Sekundar- und Gemeinschaftsschulen in Sachsen-Anhalt. Darin wurde die Vier-Tage-Präsenz-Woche zu einem offiziellen Angebot des Landes. Feußner kündigte an, den Schulleitern »zusätzliche Freiräume in der konzeptionellen Unterrichtsplanung und Unterrichtsdurchführung« zu gewähren.
»Das klang wunderschön, nach einer ganz neuen Idee«, sagt Homann, »aber ich weiß natürlich, dass es dabei auch um die Bewältigung des Lehrermangels geht, der mindestens bis zum Ende der Dekade anhalten wird.«
Außer der Schule am Burgtor arbeiten derzeit noch elf andere Sekundarschulen an einem neuen Konzept. An manchen soll es einen Tag in der Woche praxisorientiertes Lernen geben: beim Friseur, im Kindergarten oder im Pflegeheim. An anderen wird die Doppelstunde von 90 Minuten um zehn Minuten verkürzt, damit die Lehrer anders einsetzbar sind.
Alle Modelle werden mit dem Schulamt und dem Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung abgestimmt und nach dem ersten Halbjahr ausgewertet. »Das 4+1-Modell ist eine mögliche Form der Unterrichtsorganisation«, sagt Bildungsministerin Feußner WELT. »Die Schülerinnen und Schüler lernen an einem Tag der Woche zum Beispiel an einem anderen Ort.« Digitale oder hybride Formate seien denkbar. Aber erst nach der Evaluierung soll entschieden werden, was ins Regelsystem übernommen werde.
»Gesellschaft schreit nach anders ausgebildeten Jugendlichen«
An Homanns Schule werden bald vier weitere Lehrkräfte in Rente gehen. Das Durchschnittsalter des Kollegiums in der Schule am Burgtor beträgt 59 Jahre – trotz der fünf Seiteneinsteiger unter den 31 Kollegen. »Das neue Konzept ist jetzt unsere letzte Chance, die letzte Stellschraube um die Not zu lindern«, sagt er. Doch das neue Schulkonzept ist für Homann nicht nur eine Antwort auf den Mangel.
»Wir brauchen einen Paradigmenwechsel der Lehrerrolle in der Schule«, sagt er. »Wir haben eine Arbeitswelt 5.0. Die Schule ist aber bei 2.0 stehengeblieben.« An dieser Diskrepanz müsse gearbeitet werden. »Die Gesellschaft schreit nach anders ausgebildeten Jugendlichen. Und mir kann keiner erzählen, dass 80 Prozent Frontal-Unterricht heutzutage gut ausgebildete Jugendliche hervorbringt.« Man dürfe den Lehrer nicht mehr als Informationsüberträger sehen, sondern vielmehr als Coach, und müsse zunehmend auf die Eigenverantwortung der Schüler setzen.
In Homanns Konzept soll es für den fünften Lerntag fünf Module geben, einige verpflichtend, andere optional. »Bestimmte Module können die Kinder zu Hause erledigen, etwa Aufgaben mit der digitalen Lernplattform Sofatutor«, sagt Homann. »Wenn wir die Lehrkraft dazu nutzen, digitale Formate anzuleiten und die Ergebnisse zu kontrollieren, sparen wir wöchentlich zwölf Lehrer-Wochenstunden.«
Der digitale Lerntag soll in jedem Fall in der Mitte der Woche stattfinden, damit gar nicht erst die Idee entsteht, es könne ein verlängertes Wochenende geben. Doch weitere Probleme sind noch ungeklärt. Wie soll sich die Benotung gestalten? Wie geht man mit Schülern um, die einen erhöhten Förderbedarf haben? Wie verknüpft man die digitalen Lerninhalte mit dem restlichen Unterrichtsstoff?
Daran tüfteln Homann und die Fachlehrer des siebten Schuljahrgangs noch. Auf jeden Fall, sagt Homann, solle es auch ein verpflichtendes Sportprogramm geben. Dann lacht er: »Das ist nötig, wenn ich mir die Coach Potatoes so anschaue.«
Quelle: WELT.de, Autorin: Freia Peters