"Deutsche Lehrer verstehen die ukrainischen Kinder nicht"

"Eine Münchner Maklerin gründet eine Schule nur für ukrainische Kinder. Es ist das Gegenteil von dem, was deutsche Bildungsexperten fordern – doch für viele eine Rettung.
Es ist an diesem Morgen nicht schwer zu erkennen, wer neu an der Schule ist. Ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, klammert sich an die Hand ihrer Mutter, weicht ihr keinen Zentimeter von der Seite. Heute ist ihr erster Tag hier, in dem holzverkleideten Neubau am südwestlichen Rand von München, in dem seit Kurzem 200 ukrainische Kinder unterrichtet werden.

Ein kleiner Junge vergräbt seine roten Augen in der Fleecejacke seines Vaters, der ihn auf dem Arm trägt. Als er ihn vor dem Eingang absetzt, humpelt der Junge mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze durch die gläserne Tür. Drinnen ist eine behelfsmäßige Rezeption aufgebaut. Auf zwei Sofas im Gang füllen Eltern schweigend die Anmeldeformulare aus. 

»Wir erleben gerade eine zweite Welle von Kindern, die mehr Traumata haben«, sagt Anastasia Amasova. Die Ukrainerin, karierter Blazer und pink lackierte Fingernägel, ist so etwas wie die Geschäftsführerin der ukrainischen Schule, die es erst seit drei Wochen gibt. Inzwischen kommen immer mehr Kinder in die Schule, die den Krieg selbst erlebt haben.

Geht es nach deutschen Bildungspolitikerinnen, sollen die geflüchteten Kinder aus der Ukraine möglichst schnell auf deutsche Schulen gehen. Schätzungsweise 135.000 Minderjährige kamen in den vergangenen Wochen nach Deutschland. Mehr als 20.000 von ihnen sind schon an deutschen Schulen aufgenommen worden, teilte die Kultusministerkonferenz (KMK) vergangene Woche mit. In Bayern sind es etwas über 700. Auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK empfiehlt eine »rasche Integration in Kitas und Schulen«.

Die Schule in München tut das genaue Gegenteil: Die Kinder bleiben unter sich. Ist das schlecht für die Schülerinnen und Schüler? Oder genau das, was sie gerade brauchen?

Anastasia Amasova ist sich sicher: »Deutsche Lehrer verstehen nicht nur die Sprache nicht, sie verstehen auch nicht die Gefühle und Emotionen der ukrainischen Kinder.« Sie ist der Meinung, die Kinder könnten die schrecklichen Bilder des Kriegs besser verarbeiten, wenn sie in separaten ukrainischen Klassen unterrichtet werden. Deshalb hat sie diese Schule vor drei Wochen gegründet. Ohne Erfahrung, ohne pädagogische Ausbildung. 

Amasova ist Immobilienmaklerin und stammt selbst aus der Ukraine, seit drei Jahren lebt sie in München. Mit einem befreundeten Hotelier und ihrem Rechtsanwalt gründete sie einen Verein, die Waldorfschule im Stadtteil Fürstenried stellt die Räume zur Verfügung, 200 Kinder werden hier von zwölf Lehrkräften unterrichtet. Alle sprechen entweder russisch oder ukrainisch. Neben den freiwilligen Lehrerinnen betreuen auch sechs ehrenamtliche Notfallpädagogen die Kinder und Jugendlichen.

»Guten Morgen«, ruft die Lehrerin Elena der Klasse entgegen. 26 Jugendliche antworten auf Deutsch. Anfang der Woche hat die Klasse eigene Deutschhefte bekommen, heute ist Kapitel fünf dran, Seite 22. Jeden Tag stehen zwei Stunden Deutschunterricht auf dem Programm der Schüler. Am Anfang wiederholt die Klasse die Artikel im Chor: »Das Klassenzimmer«, »der Ostbahnhof«, »die Schule«. Mit ihren zaghaften Rufen übertönt die Klasse gerade so die schreienden Kinderstimmen vom Pausenhof.

In der ukrainischen Schule in München lernen die Kinder beides: 50 Prozent Deutschunterricht, 50 Prozent ukrainischen Stoff. Doch deutsche Bildungspläne, Unterricht und Schulpsychologen, die nicht ihre Sprache sprechen – all das würde nur noch mehr Stress für die Kinder bedeuten, sagt Amasova. Ihre Stimme wird lauter, wenn sie davon erzählt: »Die Kinder sind viel sensibler, als sich das die Deutschen vorstellen können.« 

Eine anerkannte Schule ist das Projekt nicht: Das Münchner Bildungsreferat schreibt auf Anfrage, die Schule könne während der ersten 90 Tage als »freiwilliges pädagogisches Angebot gesehen werden«. Danach benötige die Schule eine Genehmigung der Schulaufsicht. Darüber entscheidet das bayerische Kultusministerium. Einen dementsprechenden Austausch zwischen der Schule und den Behörden gab es bislang aber noch nicht. Nach dem bayerischen Schulgesetz sind geflüchtete Kinder erst drei Monate nach ihrer Ankunft schulpflichtig, sie dürfen aber auch früher zur Schule gehen.

Im Flur der Fürstenrieder Schule stehen unausgepackte Wasserkocher, ein Karton mit gespendeter Kleidung, an einer Tür hängt ein Peace-Symbol mit ausgeschnittenen blau-gelben Kinderhänden. Zwei Jungs im Grundschulalter kommen keuchend angerannt und drücken sich an Amasova vorbei. Die beiden lachen und schnappen sich ein Comicheft von dem Spielzeugstapel neben dem Eingang. 

Amasova entschuldigt sich für die Unordnung und läuft die Betonstufen hoch. In einem Klassenzimmer zieht sie ein Paar schwarz glänzender High Heels aus ihrer Handtasche, die sie zackig gegen ihre Ballerinas tauscht. Dann lässt sie sich auf den Stuhl hinter dem Lehrerpult fallen. Sie sei immer noch etwas müde, die drei Kaffee heute Morgen hätten nicht geholfen ..."

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