Schul-IT in Baden-Württemberg: Das große Chaos

"Mitten im Distanzunterricht erfahren hunderte Schulen in Baden-Württemberg, dass sie das Hochschul-Netz BelWü bald nicht mehr nutzen können. Im Streit um Datenschutz und Zuständigkeiten bleiben Schulen verunsichert zurück. Engagierte Lehrkräfte versuchen die Schul-IT zu schultern, doch verzweifeln an der Arbeitsbelastung.
Eigentlich ist David Baum* ein ganz normaler Lehrer an einem kleinen Gymnasium in Baden-Württemberg. Als vor einigen Jahren der damalige Netzbeauftragte der Schule in den Ruhestand ging, musste irgendjemand weitermachen. Baum interessierte sich für Technik, er übernahm den Job. Dann kam die Pandemie und damit die »unterirdischen Arbeitsbedingungen«, von denen Baum heute spricht.

Nach einem Jahr zwischen Distanz- und Präsenzunterricht schreiben seine Leistungskurse ihre Abiturprüfungen, die Schule muss Quarantänefälle koordinieren und Testverordnungen umsetzen. »Wir sind komplett am Anschlag, eigentlich schon darüber«, sagt Baum. Und dann kommt am Freitagmittag des 30. April eine E-Mail aus dem Kultusministerium an alle Netzwerkberater:innen der Schulen im Land. BelWü wird seine Dienste für Schulen einstellen.

Die Abkürzung für »Baden Württembergs extended LAN« bezeichnet das landesweite Hochschulnetz, das rund 2.000 Schulen im Südwesten Deutschlands mit verschiedenen IT-Diensten versorgte. Laut der E-Mail aus dem Kultusministerium wird es das aber in Zukunft nicht mehr tun. Die Ankündigung und ihr Zeitpunkt empören viele, unter anderem den Philologenverband.

»Unglaublich« nennt die Interessensvertretung der Gymnasiallehrkräfte es, dass »mitten im Corona-Lockdown und im digitalen Fernunterricht« tausende Schulen erfahren, »die den schulischen Internetanschluss, ihre Homepage, die Lehrer-Emailkonten und großteils Moodle-Lernplattformen bei BelWü […] betreiben, dass diese schulischen Internet-Dienste jetzt sukzessive beendet werden sollen«. Sie sind nicht die einzigen, die sich über die Ankündigung aufregen.

»Da verlieren wir einen zuverlässigen Partner und die Schulen stehen erst mal ohne Lösung da«, schreibt uns ein Lehrer. »Ich bin sehr traurig. Vor allem der Zeitpunkt ist perfekt – ich habe gerade viel Zeit für eine komplette Neukonzeption unserer digitalen Infrastruktur«, schreibt ein Nutzer auf Twitter. Namentlich äußern will sich kaum jemand.

Dass eine Mail aus dem Kultusministerium plötzlich so viel Frustration und Bestürzung hervorruft, ist die Folge lange aufgestauter Probleme und verworrener Strukturen, in denen die Digitalisierung der Schulen in Baden-Württemberg verheddert ist.

BelWü darf Schulen langfristig nicht weiter versorgen 
BelWü wird hauptsächlich vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg finanziert. Neben Universitäten und Hochschulen hat es in den vergangenen Jahren auch zunehmend Schulen im Land mit seinen Diensten versorgt. Grundlage dafür war eine Kooperationsvereinbarung mit dem Kultusministerium. Ab 2023 gebe es jedoch andere Regelungen im Vergabe- und Steuerrecht. »Diese erschweren die langfristige Bereitstellung von Dienstleistungen von BelWü für Schulen«, so die Stellungnahme des Kultusministeriums, das bislang von Susanne Eisenmann (CDU) geführt wurde. 2019 habe das grüne Wissenschaftsministerium bereits entschieden, BelWü langfristig neu auszurichten.

Während die Zuständigkeit im Kultusministerium in der neu gebildeten Landesregierung zu Theresa Schopper (Grüne) wechselt, bleibt ihre Parteikollegin und Wissenschaftsministerin Theresia Bauer in ihrem Amt. Bauer sagt in ihrer Stellungnahme: »Das Hochschulnetz BelWü hat in der Corona-Pandemie den Schulen unmittelbar und gerne geholfen. Dies kann wegen der begrenzten Kapazitäten allerdings nur eine Nothilfe und Brücke sein und ist nicht als Dauerlösung möglich.«

»Nur warum kommt die Nachricht jetzt?«, fragt Lehrer David Baum. »Und dann noch so eine halbgare Sache.« Schließlich lassen beide Ministerien weitgehend offen, wo die Schulen in Zukunft ihre Netzwerkanschlüsse bekommen sollen und wohin ihre Homepage, Wiki, Foren, NextCloud, eigene, selbstverwaltete Moodle-Auftritte umziehen werden. »Hier müssen Sie sich bitte um einen alternativen Dienstleister bemühen«, heißt es in der E-Mail des Kultusministeriums. Aus rechtlichen Gründen könne man keine Empfehlung für alternative Dienstleister geben. Die Abschaltung der Dienste soll im Oktober 2021 beginnen. Bis dahin lasse man die Schulen nicht im Regen stehen und helfe in der Übergangszeit, betont Wissenschaftsministerin Bauer.

Der Bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Stefan Fulst-Blei glaubt, hinter dem Zeitpunkt der BelWü-Mitteilung könnten strategische Gründe stecken. Der neue Koalitionsvertrag von Grünen und CDU sah den Wechsel des bisher CDU-geführten Kultusministeriums an die Grünen vor. »Ich kann mir vorstellen, dass man mit dieser negativen Nachricht für die Schulen nicht den Neuanfang belasten will«, meint Fulst-Blei. »Das finde ich völlig daneben.« 

Auch die FDP-Fraktion kritisiert, die Entscheidung sei »unerwartet und faktisch zur Unzeit« gekommen. Die Liberalen wollen von den zuständigen Ministerien mehr über die Gründe erfahren. »Egal wie man das inhaltlich begründet, egal ob notwendig oder nicht: Wissen die Ministerien eigentlich, was da gerade vor Ort passiert?« fragt auch der Sozialdemokrat Fulst-Blei.

Nein, meint Lehrer David Baum. »Sie sagen, es wäre ja noch genug Zeit, aber man muss auch bedenken, dass man die Schüler bei einem Umstieg von einer Plattform auf die andere trainieren muss«, so Baum. Ähnlich schätzt Inga Klas vom Verein »Medienkompetenzteam Karlsruhe« die Situation ein. »Die Schulen sind natürlich überrascht und ein Umzug der Dienste ist nicht mal eben gemacht, da die Kapazitäten hinten und vorne sowieso schon fehlen«, sagt sie.

Erlass von 1998 regelt Stundenzahl 
Das Problem ist aus ihrer Sicht: Schulen haben meist kein eigenes IT-Personal. Lehrer wie David Baum übernehmen die Aufgabe und müssen dafür etwas weniger unterrichten. Doch der Ausgleich kann die Mehrarbeit nicht aufwiegen. In einem Erlass des Kultusministeriums aus dem Juni 1998 heißt es: »Es ist davon auszugehen, dass der Betreuungsaufwand je angefangene 25 Unterrichtscomputer an allgemeinbildenden Schulen bei 1 Wochenstunde liegt.« Bei mehr als 50 Computern sind zwei Stunden vorgesehen.

1998 gab es aber noch keine Schulclouds, keine iPads und erst recht keinen Unterricht über Videokonferenzen wegen einer Pandemie. »Die Aufgabe war schon immer ordentlich und die Stunden zu wenig, aber in den letzten Jahren ist das aus dem Ruder gelaufen mit der zunehmenden Digitalisierung – und Corona hat dem ganzen die Krone aufgesetzt«, sagt David Baum. Formal ist er der »Netzwerkberater« seiner Schule, er selbst bezeichnet sich als IT-Admin. Als die Umstellung auf das Homeschooling im Frühjahr 2020 begann, hat er kaum noch etwas anderes gemacht, als sich um die Schul-IT zu kümmern. »Zwischendurch habe ich geschlafen, bin mal laufen gegagen und habe nebenbei notdürftig den Unterricht geschmissen.« 

Dass so viele Aufgaben an ihm hängen bleiben, liegt auch daran, dass die Zuständigkeiten zwischen Schulträger, Kommune und Land nicht eindeutig geklärt sind. Dazu kommt, dass jede Schule und jede Kommune anders sind. »In kleinen Gemeinden ist die Situation anders als in Stuttgart oder Karlsruhe mit eigenen IT-Abteilungen, wo sie Aufgaben bündeln können«, erklärt Baum..."

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