Coronakrise: Schule zwischen Angst und Euphorie
"Ein Risikopatient, der trotzdem in die Schule geht. Eine Leiterin, die mit Dutzenden Corona-Fällen umgehen muss. Eine Mutter am Ende ihrer Kraft. Menschen berichten, wie es gerade in der Schule läuft.
Kein Mindestabstand im Klassenraum, kein Unterricht im Schichtsystem: Das neue Schuljahr hat inzwischen in ganz Deutschland im sogenannten eingeschränkten Regelbetrieb begonnen, weitgehend normal, aber eben nicht ganz. Schülerinnen und Schüler müssen sich ebenso wie ihre Lehrkräfte auf neue Corona-Regeln einstellen. Wie klappt das? Wie fühlt sich die viel zitierte »neue Normalität« an?
Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer haben dem SPIEGEL von ihren Erfahrungen in den ersten Tagen und Wochen berichtet. In der Redaktion kamen teils sehr emotionale E-Mails an. Für die Protokolle in diesem Text haben wir mit den Absendern telefoniert, uns Eindrücke und Erlebnisse genauer schildern lassen und sie - soweit möglich - geprüft.
Das Ergebnis: ein Chor individueller Stimmen, aus denen in den kommenden Wochen und Monaten ein Gesamtbild der unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Pandemie-Schuljahr entstehen soll. Wie sensibel das Thema ist, zeigt sich daran, dass einige Gesprächspartner anonym bleiben wollen - weil sie sich ohne Genehmigung nicht äußern dürfen oder aus Angst vor negativen Folgen für ihr Kind. Die Klarnamen sind der Redaktion in allen Fällen bekannt.
Lesen Sie hier die Protokolle:
N.N., Berufsschullehrerin aus Nordrhein-Westfalen
»Ich habe noch nie erlebt, dass in einer neuen Schulklasse so viele Schüler einzeln auf dem Schulhof stehen und keinen Anschluss finden. Das ist sicher nicht nur der persönlichen Schüchternheit geschuldet, sondern vor allem den Corona-Regeln, wonach alle auf Distanz bleiben sollen.
In der ersten Schulwoche finden bei uns immer sogenannte Einführungstage statt, in denen es ums Kennenlernen und um Teambuilding geht. Dabei wird der Grundstein für eine gute Klassengemeinschaft gelegt. Dieses Jahr mussten die Schüler auf ihren Plätzen sitzen bleiben und durften sich nur verbal austauschen. Gruppenspiele und Interaktion waren nicht möglich. Früher entstand dadurch eine positive Dynamik im Miteinander. Dieses Jahr nicht.
Wegen Corona gibt es auch pädagogische und didaktische Rückschritte. Kooperative Lernformen zum Beispiel sind nicht mehr möglich. Ich muss meist klassischen Frontalunterricht machen. Der führt zwar dazu, dass wir Unterrichtsinhalte vielleicht etwas schneller schaffen. Aber dafür bleiben die Sozialkompetenzen, die ich als Lehrerin sonst in jeder Unterrichtsstunde fördere und auch einfordere, auf der Strecke.
Corona zeigt mir außerdem mal wieder, dass wir an den Schulen mehr Lehrer brauchen, eine bessere Ausstattung und vor allem kleinere Klassen. Durch die Abstandsregeln vor den Sommerferien haben wir zum ersten Mal ausprobiert, wie Unterricht mit 10 bis 15 Schülern laufen kann, statt wie sonst mit knapp 30. Ich habe dabei deutlich gemerkt: Je kleiner eine Gruppe ist, desto effektiver wird gelernt.
Klar, es ist für uns Lehrkräfte vielleicht etwas ätzend, mehreren Kleingruppen nacheinander in Dauerschleife dasselbe zu erzählen. Aber das Positive ist: Niemand kann sich verstecken, alle kommen mal dran. Auch meine Schüler fanden das gut. Nach dem Lockdown habe ich auch gemerkt, wie schön es ist, wieder zu unterrichten. Nicht nur wir im Kollegium, auch die Schüler haben richtig Bock auf Schule - auch wenn sie das niemals zugeben würden.
Wir müssen uns nun allerdings mit neuen Herausforderungen herumschlagen: Die Maskenpflicht im Unterricht wurde in NRW zwar aufgehoben, aber einige Schüler - und ich selbst auch - tragen die Maske weiterhin, denn das Virus ist ja nicht weg. Sowohl im Gebäude als auf dem kompletten Schulgelände besteht zudem nach wie vor Maskenpflicht.
Die Pausen bestehen daher zurzeit aus einer endlosen Wiederholung der Aufforderungen: ‘Setzen Sie Ihre Maske auf.’ - ‘Halten Sie Abstand. Das sind nicht 1,50 Meter.’ - ‘Auf der Bank dürfen nur zwei sitzen’ - ‘Nein, Sie beißen nicht vom Schokoriegel der anderen ab.’ Oder: ‘Nein, Sie teilen sich auch keine Zigarette.’
Wenn dann nur die Augen verdreht werden, geht es ja noch. So mancher Spätpubertierende will aber auch schon mal anhand seiner Penisgröße demonstrieren, wie lang 1,50 Meter sind. Es hat etwas von Realsatire. Aber es ist vor allem nervig und anstrengend und macht die Beziehung zu den Schülern schlechter, wenn man ständig reglementieren und erinnern und ermahnen muss. Schön ist das für alle nicht. Nach gerade mal vier Wochen liegen die Nerven blank«..."