Brauchen Kinder eine Smartwatch?
Spätestens in der Grundschule beginnt der große Hunger nach Gadgets. Schulkinder wünschen sich dann unter anderem eine Smartwatch. Doch ist das wirklich eine gute Idee?
Wenn Kinder gerade erst in die Schule gekommen sind, dann machen sie viele neue Erfahrungen. Sie lernen zum Beispiel, dass es Smartwatches gibt und dass viele andere Kinder schon eine besitzen. Neben Fitnessarmbändern tauchen auch Apple Watches auf – und immer wieder die speziell in Deutschland beliebten Kinder-Smartwatches von Anio und Xplora. Die Möglichkeiten der Uhren sind abseits von Zeitangabe, Ortung und Messaging recht verschieden. Voll ausgestattete Smartwatches wie die von Apple oder Samsung sind vergleichsweise teuer und zielen eher nebenbei auf Kinder ab. Spezielle Kinderuhren bieten dagegen in der Regel eine Möglichkeit zur GPS-Ortung, können Nachrichten mit festgelegten Kontakten austauschen und bieten dazu mehr oder weniger spielerische Zusatzfunktionen.
Hundeleine am Handgelenk
Was mit den Uhren während der Schulzeit gemacht werde, ist eine schwierigere Frage – auch für die, die es wissen müssen. »Eigentlich nichts«, sagt eine befragte Drittklässlerin zuerst, und dann, nach einigem Überlegen: »Vor allem Schritte zählen«. Zwei Kinder stünden in einem Wettbewerb, welches am Tag mehr gelaufen sei.
Das Gespräch mit verschiedenen Dresdner Grundschulkindern zeigt: Schritte zu zählen ist eine der beliebtesten Funktionen. Bezeichnenderweise stehen Fitnessarmbänder gleichermaßen hoch im Kurs und werden von den jungen Technikfans ebenfalls als Smartwatch bezeichnet.
»Letztlich entscheidet das jede Familie für sich«. Iren Schulz, Medienpädagogin
Eltern könnten das beruhigend finden: Die Kinder glotzen nicht den ganzen Tag auf ihr Gadget, sie werden allenfalls zu ein wenig mehr Bewegung angeregt. Erwachsene könnten das aber auch als Hinweis deuten, dass Kinder vielleicht keine Smartwatch brauchen.
Das Urteil mag Medienpädagogin Iren Schulz den Eltern nicht abnehmen: »Letztlich entscheidet das jede Familie für sich.« Sie steht den Geräten für Kinder in der Grundschule kritisch gegenüber, will aber Sicherheitsbedürfnis, Ängste und Sorgen von Eltern »gar nicht wegreden«. Sie empfiehlt Eltern, zuerst über die Motive für den Kauf nachzudenken. Geht es darum, über GPS-Ortung, SOS-Funktionen und die Möglichkeit der Kommunikation »Sorgen zu beruhigen«? Geht es eher um eine Kontrolle? Wenn die Kinder den Eindruck bekämen, an einer »digitalen Hundeleine« zu hängen, könne der Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit auch nach hinten losgehen.
Eltern sollten Sicherheit vermitteln: »Vor dem Kauf eines eigenen Geräts ist es sinnvoll, gemeinsam am gesicherten Smartphone und Tablet der Eltern zu spielen, surfen oder schauen, um Kindern Sicherheit im Umgang zu vermitteln«, heißt es von »Schau hin«, einer Initiative des Bundesfamilienministeriums, der ARD, des ZDF und der AOK. Ein eigenes Smartphone eigne sich für Kinder ungefähr im Alter zwischen elf und zwölf Jahren, »wenn sie schon genug Erfahrung und Reife besitzen, mit den vielen Funktionen verantwortungsvoll umzugehen«. Kinder sollten zudem bereits gelernt haben, geeignete Internetseiten von nicht altersgerechten oder wenig vertrauenswürdigen zu unterscheiden.
Die ständige Kopplung an die Eltern nehme Kindern zudem die Möglichkeit, selbstständig zu handeln und zu lernen – wenn etwa der Bus ausfalle und das Kind statt dem Fahrplan gleich die Eltern konsultiere. Außerdem sähen laut Schulz manche Schulen die Nutzung smarter Uhren nicht gern. Die Medienpädagogin erinnert auch an mögliche Probleme mit Datenschutz und Hacking. Den Anreiz zur Bewegung sieht sie allerdings positiv.
Ein Viertel mehr Bewegung
Smartwatches mit einem besonderen Fokus auf Bewegung verkauft die Firma Xplora. Das Unternehmen erklärt auf Anfrage, wie die Onlineplattform Goplay funktioniert: »Über den Schrittzähler unserer Kinderuhren werden automatisch die zurückgelegten Schritte gezählt, die wiederum in Xplora Coins umgewandelt werden können.« Die Schritte würden zu Coins umgemünzt und ließen sich online für Spiele sowie Wettbewerbe einsetzen oder »für einen guten Zweck« spenden. Den Erfolg hat der Hersteller vermessen: »1,24-mal aktiver als andere« seien die Kinder in Aktivitätskampagnen.
Mehr als 700.000 Uhren hat das Unternehmen seit dem Start 2017 verkauft, Deutschland sei einer der wichtigsten Märkte. Die aktuelle XGO3 Smartwatch wird als der »perfekte Einstieg in die digitale Welt« vermarktet, empfohlen für Kinder ab fünf Jahren. Die Frage nach dem Sicherheitsbedürfnis sieht der Konzern, wenig überraschend, genau anders als Schulz: Die Uhren würden den »natürlichen Drang« der Kinder »nach Selbstständigkeit« fördern – und Eltern die Sorgen nehmen, wenn sie zu ängstlich seien, »ihre Kinder eigene Wege machen zu lassen«.
Offenbar müssen Eltern und Kinder selbst ausmachen, wie sie die digitale Verbindung durch die Smartwatch bewerten – als Sicherheits- oder als Hundeleine. Einfach zu beurteilen wäre das nur bei Modellen, die Eltern Mithören oder eine Monitoringfunktion bieten: Smartwatches mit solchen Lauschfunktionen dürfen in Deutschland nicht verkauft werden, stellt die Bundesnetzagentur klar: »Eltern wird geraten, die Uhren eigenständig unschädlich zu machen und Vernichtungsnachweise hierzu aufzubewahren.«
Es gibt keine Formel
Einen »behutsamen und vor allem sicheren Weg in die digitale Kommunikation« will Anio bieten. Geschäftsführer Jan-Michael Wolff sieht die Kinder-Smartwatches seines Unternehmens vor allem als eine Lösung für »sichere Kommunikation«, mit der die Anschaffung eines Smartphones verschoben werden könne. Auch er hebt die Bewegungsmotivation durch Funktionen wie Stoppuhr und Schrittzähler hervor.
Anio empfiehlt seine Smartwatch für Kinder ab sechs Jahren und folgt dabei den Empfehlungen des bekannten französischen Psychologen Serge Tisseron. Auf die Frage nach pauschalen Regeln hat Medienpädagogin Schulz eine trockene Antwort: »Eine Formel gibt‘s nicht.« Kinder sind verschieden. Letztendlich müssen Eltern das tun, was sie immer getan haben: Schwierige Abwägungsentscheidungen fällen – und die Konsequenzen aushalten.
Quelle: RND.de