Kein Lehrplan, kein Unterricht, kein Klassenraum

"So stellt sich Anke Langner die Schule der Zukunft vor. Mit ihrem Projekt in Dresden stellt die Bildungsforscherin viele Standards infrage.
An Schule, am Schulsystem, hat sich Anke Langner schon immer gerieben. Lehrerin werden wollte sie – trotzdem oder deshalb – nie. Über Schule und Identitätsbildung hat sie promoviert, jetzt ist sie Professorin für Inklusive Bildung an der TU Dresden – und hat ihre eigene Schule erfunden. »2015 habe ich das erste Mal beim Kultusministerium gesessen und das Konzept der Universitätsschule vorgestellt«, sagt sie. Zum Schuljahr 2019/2020 haben in Dresden vier Klassenstufen, rund 200 Schülerinnen und Schüler, an der »Schule der Zukunft« gestartet. Trägerin ist die Stadt Dresden, aktuell werden 340 Kinder dort beschult, jedes Jahr kommen weitere dazu. Die Genehmigung läuft zunächst 15 Jahre.

Die Universitätsschule Dresden stellt alles auf den Kopf, was sonst Standard ist. Was bleibt, ist der Begriff »Schule« für einen Ort, an dem sich Bildung vollzieht – aber auch dieser Ort ist nicht so fix gesetzt. Beim Experiment »Schule der Zukunft« gibt es keine Lehrerinnen und Lehrer, es gibt keinen Lehrplan und keine Fächer, es gibt keinen Unterricht, keine Schulbücher, keinen Klassenraum und keine Noten. Es gibt keine Ferien, sondern Urlaub. Es gibt nur das Ziel: Bildung.

Dafür suchen sich die Kinder und Jugendlichen weitgehend selbst aus, was sie lernen möchten, sie stecken sich Ziele, arbeiten alleine oder in Gruppen über einen mehrwöchigen Zeitraum an diesen, und werden dabei inhaltlich und organisatorisch von Lernbegleiter:innen unterstützt – neben Lehrkräften und Erzieher:innen können das auch ältere Kinder und Jugendliche oder externe Personen sein.

Jeden Tag dokumentieren die Lernenden ihren Lernprozess – digital. Aus den Daten entstehen individuelle Lernpfade, die von der TU Dresden ausgewertet werden. »Das sind Daten, die man normalerweise kaum erheben darf«, sagt Langner. Die Eltern müssen dazu ihr Einverständnis geben, abgesehen davon ist die Schule für alle offen.

Ein Forschungsinteresse liegt zunächst darin, zu erfahren, wie ein Kind lernt, wenn die Struktur nicht vorgegeben ist. In diesem Land, in diesem Zeitalter. Darüber wisse man quasi nichts, sagt Anke Langner. Wie Lernprozesse im Gehirn ablaufen, welche individuellen Organisationswege Kinder sich suchen, wenn sie nur von ihrem Leben, nicht von einem vorgegebenen Lehrplan beeinflusst sind, dazu gibt es keine Daten. Geforscht wird dennoch aus dem Standpunkt der Lehrerbildung, also der Verbesserung der Ausbildung von Lehrkräften: Immer weniger sollen Kinder sich erwachsenengemachten Lehrvorgängen unterwerfen müssen, sondern Lehrkräfte so ausgebildet werden, dass sie Lernprozesse und Entwicklungswege bestmöglich unterstützen.

Denn auch an Regelschulen geht der Trend in Richtung Reformpädagogik. Das zeigt zum Beispiel die Ausweitung der AG-Angebote. Und das bestätigt auch Anne Sliwka, Professorin für Bildungswissenschaften an der Universität Heidelberg, die sich mit Schulsystementwicklung und Innovation an Schulen beschäftigt. Projektorientiertes, selbstorganisiertes, außerschulisches und fächerübergreifendes Lernen seien keineswegs neue Ansätze, sondern beispielsweise aus der Montessori- oder Waldorf-Pädagogik bekannt. Seit einigen Jahren halten diese immer mehr Einzug in den Regelbetrieb. »Fast keine Schule ist heutzutage nicht reformpädagogisch beeinflusst, das gilt besonders für Grundschulen«, sagt sie.

Die Idee, dass Kinder lernen wollen – aber eben nicht immer das, was sie lernen müssen, sei »typisch reformpädagogisch«. Diese Idee setzen bereits andere Schulen ins Zentrum, das Institut Beatenberg in der Schweiz oder die Karl-Popper-Schule in Frankfurt, sie sind aber mit teilweise hohem Schulgeld verbunden und hätten einen »extrem hohen Betreuungsschüssel«, sagt Sliwka. In der Dresdner Universitätsschule kommen im Grundschulalter auf 24 Kinder eine Lehrkraft und eine Erzieherin oder ein Erzieher, später eine Lehrkraft auf 23 Jugendliche. Die aufgewendeten finanziellen Mittel befinden sich laut Sächsischem Kultusministerium im Normalbereich für Schulen dieser Größe. Die Anschaffung von Laptops sei vergleichsweise teuer gewesen, heißt es von den Forschenden, dafür fielen die Kosten für Schulbuchsätze weg. Die Software für das Schulmanagement, die Fortbildung der Lehrkräfte und das Datenschutzkonzept sei extern von Stiftungen, beziehungsweise der TU Dresden finanziert worden.

Und weil klar ist, dass »ein digitales Endgerät ermöglicht, individuelle Wege zu gehen« und selbstständiges Lernen heutzutage ohne den Einsatz von Digitalem nicht auskommt, wird auch an künstlicher Intelligenz zu diesem Zweck gearbeitet – im Sinne von Lernprozessanalysen und Lernmanagementsoftware. Die meisten Momente bedürfen aber der Professionalität einer Lehrkraft, sagt Langner, die das Forschungsprojekt und das offene Schulkonzept entworfen hat.

Die Schultage in der Zukunftsschule haben je nach Alter einen festen Rhythmus aus Arbeits- , Bewegungs- und Spiel-Phasen sowie Musik- und Essens-Pausen. Nach Farben sortierte Stammgruppen bilden eine soziale Einheit, in der ein Morgenkreis oder Reflexionsstunden stattfinden. Meistens aber beschäftigen die Schülerinnen und Schüler sich mit ihren Projekten, die Räume sind dabei offen: Schreibtisch, Garten, Küche, Werkstatt..."
 

Zum Artikel der Frankfurter Rundschau.de.