Wie Bildung Leben verändert: Die jungen Coding Queens von "Silicon Dar"
"In Tansania boomt die Tech-Szene: Ein Frauenprojekt will Schülerinnen für das Programmieren begeistern und ihnen eine Zukunftsperspektive geben.
Mit zögernden Schritten betreten die Mädchen den gefliesten Raum, einen Laptop unterm Arm. Ihr Blick springt über die Holztische, bevor sie sich einen der Plastikstühle aussuchen. Auch Honey Mwamba hält kurz inne, dann entscheidet sie sich für einen Platz mit dem Rücken zur weißen Tafel. Sie klappt den Laptop auf, drückt vorsichtig den Startknopf, wartet. Mehr Mädchen trudeln ein, zwischen 13 und 15 Jahre alt, bis ein Dutzend Laptops aufgeklappt sind.
Honey Mwamba ist heute das erste Mal hier. Weil ihre Mutter es ihr verboten hätte, hat sie gelogen und gesagt, sie würde ein Seminar in der Schule besuchen. Anschließend ist sie über eine halbe Stunde mit dem Sammelbus aus dem Westen Daressalams hierhergefahren. Die Fünfzehnjährige hat sich für diesen Tag ein Ziel gesetzt: Ihre erste eigene Website zu bauen.
Kurz darauf nimmt an einem Tisch am hinteren Ende des Raumes eine junge Frau Platz, setzt sich kerzengerade auf den Stuhl, überblickt den Raum, vertieft sich dann in ihr Smartphone. Nur ab und an blickt Modesta Joseph auf, nickt einer Nachzüglerin mit einem Laptop zu, oder zupft sich mit spitzen Fingern ihre Stoffmaske zurecht, die sie farblich auf ihr schulterfreies Top abgestimmt hat. Dann sausen ihre Finger wieder über die Bildschirmtastatur.
Modesta Joseph saß vor einigen Jahren selbst schüchtern vor einem Laptop. Dann baute sie eine Website, die ihr Leben veränderte. Heute wird sie Honey Mwamba helfen, ihrem Traum ein paar Programmierzeilen näherzukommen. Modesta Joseph ist Trainerin bei der Nichtregierungsorganisation Apps and Girls.
Die NGO möchte Schülerinnen für Computer, Internet und Apps begeistern und ihnen ein Grundverständnis für Programmiersprachen wie HTML an die Hand geben. Neben dem wöchentlichen Coding Club, bei dem die Mädchen mit Laptops ausgestattet werden, im Schulungsraum in Mwananyamala, fährt das Team aus acht Trainerinnen und Trainern zu Schulen im ganzen Land, gibt dort Workshops zu digitaler Bildung, wirbt für einen Roboterwettbewerb und bildet Lehrerinnen und Lehrer weiter, damit diese wiederum ein grundlegendes Verständnis von Laptops und Smartphones vermitteln können.
Apps and Girls arbeitet damit in einem Bereich, der sich in Tansania rasant entwickelt: Die Nutzung des mobilen Internets hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als vervierfacht, vergangenes Jahr wurden erstmals über 27 Millionen mobile Internetzugänge registriert – bei fast 60 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. In Daressalam hat sich in einem Stadtteil rund um die Bagamoyo Road ein »Technologie-Ökosystem« entwickelt: Der Mobilfunkanbieter Tigo hat hier seinen Hauptsitz in einem Glasturm, ebenso Vodacom und Costech. Tech-Giganten, die mit günstigen Datentarifen, mobilen Bezahlsystemen und breiter 4G-Netzabdeckung Tansania digitalisieren möchten.
In ihrem Dunstkreis haben sich in den letzten Jahren Dutzende sogenannter Tech Hubs angesiedelt: Großraumbüros, in denen Dutzende junge Gründer:innen günstig einzelne Tische mieten und sich untereinander austauschen können. Sie müssen dieselben Schwierigkeiten meistern: Investoren und Investorinnen gewinnen und so ihr Geschäft vergrößern. »Sheria Kiganjani« ist so ein Beispiel, eine Smartphone-Plattform, die Menschen Zugang zu Gesetzestexten, Gerichtsurteilen und Rechtsvertretung ermöglicht. Oder »Nala«, ein mobiler Zahlungsdienstleister.
Die Tech-Szene boomt in Tansania und vielen anderen Ländern Afrikas. Sie eint eine Idee: Wer Programmiersprachen beherrscht, beherrscht ein universelles Alphabet und damit die Sprache der Wirtschaft im 21. Jahrhundert. Der Stadtteil um die Bagamoyo Road in Daressalam trägt deshalb den Beinamen »Silicon Dar«.
Die Mieten in den Glastürmen kann sich Apps and Girls nicht leisten. Dafür wird sie aus einem solchen finanziert: Der Mobilfunkanbieter Tigo stellt den Großteil des Budgets. Das Büro und der Schulungsraum der NGO liegen in einem weißen Haus zwei Kilometer von der Bagamoyo Road entfernt. Hierher kommen die Mädchen aus den Slums, die noch nie einen Laptop in den Händen hielten. Und hier versuchen Modesta Joseph und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter die Schlagseite geradezurücken, die durch den Digitalisierungsschub noch verstärkt werden könnte: die Diskriminierung von Frauen. Wie überall auf der Welt studieren auch in Tansania vor allem Männer Natur- und Ingenieurswissenschaften und Informatik. Nur zehn Prozent der Studierenden im Fach Informatik sind weiblich. Bleiben Frauen außen vor, wenn sich Start-ups gründen oder Tech-Konzerne ansiedeln, können sie nicht teilhaben am wirtschaftlichen Aufschwung.
An diesem Tag, an dem Honey Mwamba und Modesta Joseph aufeinandertreffen, geht es deshalb nicht nur darum zu lernen, eine eigene Website zu bauen. Es geht auch darum, die Zukunft Tansanias zu verändern.
Doch erst braucht es die Grundlagen: Modesta Joseph steht im Schulungsraum zwischen den Tischen, während eine andere Trainerin nach und nach Befehle an eine weiße Tafel schreibt.
»Schreibt bitte und schließt danach wieder mit«, sagt sie und zeigt auf die Zeilen. Modesta Joseph beugt sich über die Schultern der Mädchen und versucht zu helfen: HTML eröffnen, Kopfzeile eröffnen, Titel einfügen, Kopfzeile schließen, HTML schließen. So ist der Code aufgebaut. Honey Mwambas Finger kreisen unsicher über der Tastatur. »Ich arbeite heute das erste Mal mit einem Laptop«, sagt sie und sucht angestrengt den Buchstaben L. Den Laptop stellt Apps and Girls für die Dauer des Workshops, in Honey Mwambas Schule gibt es keine Computer, zu Hause arbeitet nur ihr Vater ab und an mit einem Laptop, ihre Mutter nie. Verständnis für die Leidenschaft ihrer Tochter hat sie deshalb nicht. »Sie möchte, dass ich mich voll und ganz auf die Schule konzentriere«, sagt Honey Mwamba. »Aber ich möchte Musikerin werden, Videos schneiden und eine eigene Homepage haben. Dafür muss ich lernen, mit einem Computer umzugehen.«
Honey Mwamba dreht sich um, fixiert eine Zeile auf der Tafel, dreht sich hastig zurück und versucht sie schnell aus dem Gedächtnis einzutippen. »Ich bin einfach zu langsam«, murmelt sie, muss sich erneut umdrehen. »Jetzt abspeichern!«, ruft die Trainerin von vorne, Modesta Joseph wiederholt es leise für die, die zu vertieft in ihren Code sind. Honey klickt mit zittrigen Fingern, dann: Fehlermeldung. Doch für weitere Versuche bleibt keine Zeit. »Was sollen wir jetzt mit dem Code?«, fragt die Trainerin in den Raum. Die Mädchen blicken sie stumm an. »Wir verwirklichen damit eigene Ideen!«, überrascht die Trainerin und blickt dabei in etwas ratlose Gesichter. So schnell erschließen sich ihnen die Möglichkeiten der digitalen Welt nicht. Alle Workshops von Apps and Girls sind deshalb in zwei Teile aufgeteilt. Zuerst die Grundlagen des digitalen Alphabets, anschließend eine Einheit zu Entrepreneurship, also »Gründertum«.
Nun tritt Modesta Joseph neben die Tafel mit den Codes. Honey Mwamba wendet sich mit dem Rücken zu ihrem Laptop und dem blinkenden Cursor auf dem Bildschirm und schaut gebannt nach vorne. Kurz wird es so still im Raum, dass Motorenlärm durch die Fenster murmelt. Dann beginnt sie zu erzählen, wie eine Bushaltestelle ihr Leben verändert hat.
Modesta Joseph wuchs in Kiwalani auf, einem Viertel mit Häusern aus unverputzten Backsteinen und staubigen Straßen in der Einflugschneise des Flughafens von Daressalam. Ihr Vater arbeitete in einem Geschäft für Elektrogeräte, ihre Mutter hatte die Schule nach der siebten Klasse verlassen, organisierte nach Modesta Josephs Geburt den Haushalt, in dem elf Personen lebten: Bruder, Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins. Und zwei Hunde. An manchen Tagen reichte das Geld nur für eine Mahlzeit. »Aber wir haben das überwunden«, sagt Modesta Joseph. Der größte Wunsch ihrer Eltern: Die Tochter solle studieren, es besser haben. »Man sieht tolle Leben in Filmen – Autos, Kleidung, Essen – und möchte das auch erreichen«, sagt Modesta Joseph. Sie strengte sich an, bekam Bestnoten, wurde für eine Mädchenschule im Stadtzentrum von Daressalam zugelassen.
Jeden Morgen ging die dreizehnjährige Modesta Joseph nun durch enge Gassen und entlang der Hauptstraße zur Ausbuchtung an der Hauptstraße, von wo sie den Bus in die Innenstadt nehmen musste. Und jeden Morgen wurde dieser Moment zu einem Kampf.
Zuerst wurde sie nicht mitgenommen. Weil Schülerinnen und Schüler in Tansania nur die Hälfte des Fahrtpreises zahlen, füllten die Busfahrer die letzten freien Zentimeter im Bus lieber mit Erwachsenen für den vollen Preis und ließen Modesta Joseph einfach stehen. Sie lernte daraus, diskutierte hartnäckig mit den Busfahrern oder zahlte gleich den Preis für Erwachsene. Dann stand sie endlich im Gang des Busses und wurde – noch halb Mädchen und schon halb Frau – Teil einer schunkelnden Masse, Jeans an Jeans, Haut an Haut, den Atem einer Mitfahrerin oder eines Mitfahrers im Nacken. Und hatte plötzlich eine Hand auf dem Po. Oder bekam ein obszönes Angebot ins Ohr geflüstert. »Selbst Väter oder Mütter von jungen Mädchen, schauten einfach weg«, sagt Modesta Joseph mit Verachtung in der Stimme.
An einem Tag in dieser Zeit änderte sich alles – mit einem Laptop und einer Frage. Modesta Joseph hatte in der Schule von einem »Coding Club« gehört, der in ihrer Nachbarschaft stattfinden sollte. Modesta Joseph ging zu der Adresse, betrat ein Wohnhaus. Es war das Haus von Carolyne Ekyarisiima, Informatikerin aus Uganda, die im Jahr 2013 Apps and Girls gegründet hatte – einer der ersten »Tech Hubs« in Tansania überhaupt.
Auf einem Video sind diese Wochen von damals festgehalten. Modesta Joseph sitzt in Ekyarisiimas Wohnzimmer auf einem Plastikstuhl und vor einem Laptop, inmitten von zwei Dutzend Mädchen und umgeben von Steckerleisten, Bildschirmen und Tellern voller Essen. Eine große LAN-Party.
Damals, vor sieben Jahren, war es Ekyarisiima, die über die Schulter schaute und half, Buchstaben zu finden und die Codeschnipsel richtig anzuordnen. So lernte Modesta Joseph die ersten Zeilen HTML zu schreiben und den Aufbau einer App zu verstehen.
Irgendwann stellte Ekyarisiima den Mädchen zwei Fragen: »Welches Problem fällt dir in der Gesellschaft auf? Und was willst du dagegen tun?«
Modesta Joseph dachte an die Bushaltestelle, an die Busfahrt, die Demütigungen und an diejenigen, die sich ungerecht behandelt fühlen. Also auch an sich selbst. »Es fühlte sich an, als hätte mir jemand ein weißes Blatt Papier und einen Stift gegeben und gesagt: Jetzt überlege, was deine Leidenschaft ist und was du damit für dich und andere tun kannst.«
Sie baute eine Website, Ekyarisiima und ihr Mann halfen ihr dabei. Dort konnten Schülerinnen und Schüler in ein Formular eintragen, wenn ihnen auf dem Schulweg Unrecht widerfahren war: gewalttätige Busfahrer melden, Fotos der Busse hochladen, Kennnummern vermerken und beschreiben, was passiert war. Die Beschwerden wurden automatisch an die zuständige Stelle bei der Stadtverwaltung und der Polizei weitergeleitet. Zusätzlich stellte Modesta Joseph in sechs Schulen Boxen auf, in die diejenigen ohne Internetzugang ihre Beschwerdezettel werfen konnten. Sie nannte das Projekt »Our Cries« – unsere Schreie. In den ersten zwei Jahren sind mehr als 600 Beschwerden in den Boxen und auf der Website eingegangen.
Modesta Joseph, angespornt von der Resonanz, plante eine Partnerschaft mit der Verkehrsbehörde aufzubauen und das Projekt so auf feste Beine zu stellen. Doch zwei Jahre versuchte sie vergeblich, überhaupt einen Termin mit den Verantwortlichen zu bekommen. Niemand nahm die damals Fünfzehnjährige ernst ..."